Die Verschuldungslage im nichtfinanziellen Privatsektor des Euroraums seit Beginn der geldpolitischen Straffung Monatsbericht – April 2025
Veröffentlicht am 23.4.2025
Die Verschuldungslage im nichtfinanziellen Privatsektor des Euroraums seit Beginn der geldpolitischen Straffung Monatsbericht – April 2025
Monatsberichtsaufsatz
Dieser Aufsatz beschreibt anhand einer breiten Palette unterschiedlicher Indikatoren die Entwicklung der Verschuldungslage im nichtfinanziellen Privatsektor des Euroraums seit Beginn der jüngsten geldpolitischen Straffung.
Die geldpolitischen Maßnahmen als Antwort auf das Inflationsumfeld hinterließen Spuren in den Bilanzen des nichtfinanziellen Privatsektors im Euroraum: Deutliche Zinserhöhungen führten vor allem bei zinsabhängigen Größen wie Zinsaufwendungen und Schuldendienst zu Anstiegen. Trotzdem verschlechterte sich die Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors insgesamt nicht grundlegend. So wirkten insbesondere gestiegene nominale Einkommen entlastend.
Aus geldpolitischer Perspektive dient die Analyse der Verschuldungssituation unter anderem der Erkennung möglicher verschuldungsbedingter bilanzieller Beschränkungen von nichtfinanziellen Unternehmen oder privaten Haushalten. Solche Restriktionen können deren Ausgabenverhalten so sehr verändern, dass sie die Wirkung der Geldpolitik verstärken. Die gegenwärtige und zu erwartende Entwicklung der Verschuldungssituation des nichtfinanziellen Privatsektors deutet aber nicht auf umfassende bilanzielle Einschränkungen hin. Daher legen die Ergebnisse nahe, dass die geldpolitische Transmission durch die Verschuldung nicht verstärkt wurde und auch in naher Zukunft nicht verstärkt werden dürfte.
Aus Zentralbanksicht ist es notwendig, die Entwicklung der Verschuldungslage laufend zu beobachten, um damit verbundene Änderungen in der geldpolitischen Transmission rechtzeitig zu erkennen und gegebenenfalls bei der Kalibrierung des geldpolitischen Kurses berücksichtigen zu können. Dabei können die in diesem Aufsatz vorgestellten Verschuldungsindikatoren eine zentrale Rolle einnehmen.
1 Einleitung
Zinssensitive Verschuldungsindikatoren reagierten erwartungsgemäß seit Beginn der geldpolitischen Straffung. Auf den 2021 einsetzenden Inflationsschub antwortete das Eurosystem mit einer kräftigen geldpolitischen Straffung. Diese Phase hinterließ Spuren in den Bilanzen des nichtfinanziellen Privatsektors des Euroraums. Demnach gingen die durch die restriktive Geldpolitik des Eurosystems gestiegenen Zinsen für sich genommen vor allem mit höheren finanziellen Belastungen für den nichtfinanziellen Privatsektor in Form höherer Zinsausgaben und eines höheren Schuldendienstes einher.
Die Analyse der Verschuldungslage im nichtfinanziellen Privatsektor kann wertvolle Erkenntnisse für die Geldpolitik liefern. Aktuelle Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass sich die Wirkungskraft der Geldpolitik verstärken könnte, sofern sich breit angelegte bilanzielle Beschränkungen der nichtfinanziellen Unternehmen und privaten Haushalte in sich verschlechternden Verschuldungsindikatoren widerspiegeln. 1 Vor diesem Hintergrund ist es für eine Notenbank von besonderem Interesse, die Entwicklung der Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors fortwährend zu beobachten. Hierdurch können mögliche Folgen für die Transmission der Geldpolitik rechtzeitig erkannt und gegebenenfalls bei der Kalibrierung des geldpolitischen Kurses berücksichtigt werden. 2
Die Identifikation geldpolitisch bedeutsamer Entwicklungen bei der Verschuldung bedarf der Nutzung mehrerer Indikatoren. Der vorliegende Aufsatz untersucht im Detail, wie sich die Verschuldungssituation des nichtfinanziellen Privatsektors im Euroraum seit Beginn der geldpolitischen Straffung entwickelt hat. Die Analyse greift dabei auf eine Vielzahl von Verschuldungsindikatoren zurück. 3 Dies erlaubt eine breite und differenzierte Einschätzung der Verschuldungslage und vermindert das Risiko, relevante Entwicklungen zu übersehen. Auf dieser Basis untersucht der Aufsatz, ob die Verschuldungssituation im Euroraum die Wirkung geldpolitischer Impulse tendenziell verstärkt haben könnte und trifft dazu auch eine vorausschauende Aussage. Insgesamt ergeben sich folgende Erkenntnisse:
Trotz punktueller Anstiege einiger Verschuldungsindikatoren verschlechterte sich die Verschuldungslage seit Beginn der jüngsten geldpolitischen Straffung nicht wesentlich: Insbesondere zinssensitive Verschuldungsindikatoren zeigten zuletzt gestiegene Belastungen an, aber ...
… die höheren Zinsbelastungen wurden durch nominal gestiegene Einkommen überkompensiert.
Es ist nicht davon auszugehen, dass der nichtfinanzielle Privatsektor aufgrund der aktuellen und der mittelfristig zu erwartenden Entwicklung der Verschuldungssituation sein Ausgabeverhalten in Reaktion auf geldpolitische Impulse stärker anpasst, daher ...
… dürfte sich auch aus diesem Grund die geldpolitische Transmission nicht verändert haben und auch mittelfristig verschuldungsbedingt nicht verändern.
2 Bilanzielle Beschränkungen und geldpolitische Transmission
Die finanzielle Flexibilität von Haushalten und Unternehmen kann durch bilanzielle Restriktionen eingeschränkt werden. Die Bilanzsituation der privaten Haushalte und der nichtfinanziellen Unternehmen bestimmt wesentlich den finanziellen Spielraum, der ihnen für Konsum- und Investitionsentscheidungen zur Verfügung steht. Wenn sie aufgrund ihrer Bilanzsituation nicht mehr uneingeschränkt auf finanzielle Ressourcen zurückgreifen können, um etwa Einkommensschwankungen auszugleichen, bezeichnet man sie als bilanziell restringiert. Die Bilanzsituation der privaten Haushalte sowie der nichtfinanziellen Unternehmen spielt daher eine wesentliche Rolle bei ihren Konsum- beziehungsweise Investitionsentscheidungen.
Bilanzielle Restriktionen können in unterschiedlichen Formen auftreten. Bilanzielle Restriktionen sind Einschränkungen finanzieller Art und können sich etwa als fehlende Liquiditätspuffer oder als erschwerter Zugang zu Außenfinanzierung darstellen. 4 Insbesondere der Zugang zu Außenfinanzierung wird durch die Höhe der Haushaltseinkommen oder der Unternehmenserträge sowie dem Wert der darüber hinausgehenden Kreditsicherheiten – wie etwa Immobilien oder Wertpapiere – im Verhältnis zur Verschuldung beeinflusst. Zusätzlich spielt in diesem Zusammenhang auch die finanzielle Widerstandsfähigkeit eine wichtige Rolle. 5 Hierunter versteht man die Fähigkeit von Kreditnehmern, Zahlungsausfälle zu vermeiden. Typischerweise erhöhen Kreditgeber ihre Risikoprämien – etwa nach geldpolitischen Straffungen – umso stärker, je niedriger die finanzielle Widerstandsfähigkeit der Kreditnehmer ist, da Kreditgeber in einer solchen Situation Zahlungsausfälle mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einkalkulieren. 6 Zugleich stellen Kreditgeber höhere Anforderungen an die Kreditsicherheiten, um die Verluste bei einem Kreditausfall zu reduzieren. Die hieraus resultierenden höheren Zinsbelastungen und engere Beleihungsgrenzen wiederum beeinträchtigen die Kreditwürdigkeit der Kreditnehmer und somit die Fähigkeit, neue Kredite aufzunehmen oder sich zu refinanzieren. Gerade in einer geldpolitischen Straffungsphase ist es möglich, dass sich die Verschuldungssituation von Unternehmen und privaten Haushalten so stark verschlechtert – beispielsweise durch eine erhöhte Zinsbelastung –, dass sich dadurch bilanzielle Restriktionen ergeben oder bestehende Beschränkungen verstärkt werden.
Verschuldungsbedingte bilanzielle Beschränkungen können die Wirkung einer geldpolitischen Straffung verstärken. 7 Wenn die Finanzierung für private Haushalte sowie nichtfinanzielle Unternehmen durch bilanzielle Beschränkungen erschwert wird, hat dies Auswirkungen auf die geldpolitische Transmission. Bilanziell beschränkte Akteure weisen nämlich typischerweise eine vergleichsweise hohe Ausgabensensitivität gegenüber Einkommensänderungen auf: 8 Bei fehlenden liquiden Mitteln und/oder einem eingeschränkten Zugang zu Außenfinanzierung reduzieren solche Akteure ihre Konsum- und Investitionsausgaben – etwa nach geldpolitischen Zinserhöhungen – stärker als jene Akteure, die nicht beschränkt sind. 9 Die Dämpfung der aggregierten Nachfrage durch die Zinserhöhung kann hierdurch verstärkt werden. 10
Auch bei geldpolitischen Lockerungen können bilanzielle Beschränkungen die Transmission verstärken. Die Geldpolitik beeinflusst bilanzielle Beschränkungen auch über ihre Wirkung auf Vermögenspreise und Einkommen. Im Fall expansiver geldpolitischer Maßnahmen werden infolge steigender Einkommen und Vermögenspreise bestehende bilanzielle Beschränkungen gelockert. Dies ermöglicht eine zusätzliche Kreditaufnahme und damit das Tätigen zuvor unterlassener Ausgaben. Im Fall einer restriktiven geldpolitischen Maßnahme erfordern die bilanziellen Beschränkungen entsprechende Ausgabeneinschränkungen. In beiden Fällen verstärkt das Vorhandensein bilanzieller Beschränkungen die Wirkung geldpolitischer Impulse.
In isolierter Betrachtung ändert sich der Grad der bilanziellen Beschränkungen des nichtfinanziellen Privatsektors im Verlauf des geldpolitischen Zyklus. Für sich genommen führen Leitzinserhöhungen im Zuge einer geldpolitischen Straffung – vor allem über höhere Zinsbelastungen – zu einem graduellen Anstieg bilanzieller Beschränkungen. Aufgrund der hier vorgestellten Zusammenhänge dürfte dies nach und nach eine Verstärkung der Übertragung geldpolitischer Maßnahmen auf die Konsum- und Investitionsausgaben des nichtfinanziellen Privatsektors bewirken. Ausgehend hiervon dürfte eine nachfolgende Phase der geldpolitischen Lockerung den Grad der bilanziellen Beschränkungen anschließend wieder verringern. Dadurch nimmt auch der durch die bilanziellen Beschränkungen verstärkende Effekt geldpolitischer Maßnahmen allmählich wieder ab. 11 Entsprechend schwankt die Stärke der Transmission über den geldpolitischen Zyklus. Allerdings bezieht sich diese Aussage ausschließlich auf den Effekt, den geldpolitische Maßnahmen isoliert betrachtet auf die bilanzielle Verschuldung und damit die Stärke der Transmission haben. In der Realität kann dieser Effekt durch die Auswirkungen weiterer Entwicklungen überlagert werden. Dies gilt insbesondere für den Verlauf der Inflation, auf welche die Geldpolitik mit ihren Maßnahmen reagiert. Zudem bestimmt die Inflation zum Beispiel wesentlich die Entwicklung der Nominaleinkommen, aus denen wiederum der Schuldendienst zu leisten ist.
Bilanzielle Beschränkungen verstärken den Effekt geldpolitischer Maßnahmen insbesondere in Zeiten hoher Verschuldung des nichtfinanziellen Privatsektors. Insgesamt betrachtet deutet die Literatur darauf hin, dass geldpolitische Impulse mit einer höheren Wirksamkeit einhergehen, wenn bilanzielle Restriktionen die betroffenen Akteure in ihren Ausgabeentscheidungen beschränken. Dies dürfte vor allem dann der Fall sein, wenn die Verschuldung und die mit ihr einhergehenden Zins- und Tilgungszahlungen relativ zum Einkommen, zum Vermögen oder zu den liquiden Aktiva bereits hoch sind. 12 Insofern ist es insbesondere für Notenbanken von Bedeutung, das mögliche Ausmaß bilanzieller Beschränkungen regelmäßig zu überprüfen, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund einer gegebenenfalls notwendigen Kalibrierung des geldpolitischen Kurses.
3 Die jüngste Entwicklung der Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors
Eine umfassende Gesamteinschätzung der Verschuldungslage bedarf der Betrachtung einer Vielzahl von Indikatoren. In der Regel kann die Verschuldungslage nicht ausreichend durch einen einzelnen Indikator beschrieben werden. Typischerweise fokussiert ein einzelner Indikator jeweils nur auf einen ausgewählten Teilaspekt. Eine niedrige Liquiditätsausstattung kann demnach etwa auf Schwierigkeiten hinweisen, kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Jedoch kann sie sich bei einer gleichzeitig niedrigen Verschuldung als weniger bedenklich herausstellen, da eine niedrige Gesamtverschuldung tendenziell mit zusätzlichen Verschuldungsspielräumen einhergeht. Insofern wird nachfolgend die Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors anhand mehrerer Indikatoren betrachtet: Zum einen sind dies einkommensbasierte Kenngrößen wie etwa das Verhältnis von Verschuldung zum Bruttoinlandsprodukt. Zum anderen zählen hierzu Indikatoren, die auf bilanziellen Kennzahlen basieren. Die Untersuchung umfasst dabei sowohl die nichtfinanziellen Unternehmen als auch die privaten Haushalte im gesamten Euroraum. Zusätzlich werden auch die vier größten Mitgliedsländer Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien separat betrachtet.
Die Verschuldungsindikatoren beruhen auf sektoralen Angaben. Für die Berechnung der Kennzahlen zur Verschuldungslage werden Daten der Gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung und der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen herangezogen. 13 Genauer handelt es sich bei den Kennzahlen um makroökonomische Aggregate für die jeweils einzeln betrachteten Sektoren: nichtfinanzielle Unternehmen und private Haushalte. 14 Grundsätzlich setzt sich die Verschuldung der nichtfinanziellen Unternehmen aus konsolidierten Krediten 15 , Schuldverschreibungen, Pensionsrückstellungen und Handelskrediten zusammen. Bei den privaten Haushalten hingegen beschränkt sich die Verschuldung auf Kredite. Im Einzelnen werden die folgenden Indikatoren analysiert:
Verschuldungsquote: Die Verschuldungsquote drückt die Verschuldung im Verhältnis zu einem sektoralen Einkommensindikator aus. Ein im Zeitverlauf gestiegener Wert zeigt an, dass die Verschuldung im Verhältnis zum Einkommen zugenommen hat. Für sich genommen sinkt hierdurch mittelfristig die Tragfähigkeit der Verschuldung. Im Fall der nichtfinanziellen Unternehmen wird die Bruttowertschöpfung als Einkommensindikator herangezogen. Für die privaten Haushalte stützt sich die Berechnung hingegen auf das verfügbare Einkommen (brutto). Hinsichtlich der Verschuldungsdefinition wird bei den nichtfinanziellen Unternehmen zwischen Bruttoschulden und Nettoschulden (Bruttoschulden abzüglich vorhandener hoch liquider Aktiva) unterschieden.
Verschuldungsgrad: Der Verschuldungsgrad stellt das Fremdkapital den gesamten Vermögenswerten der nichtfinanziellen Unternehmen oder der privaten Haushalte gegenüber. 16 Im Gegensatz zur Verschuldungsquote, die nur die Beschränkungen auf der Passivseite berücksichtigt, stellt dieser Indikator zusätzlich eine Verbindung zur Aktivseite her. Dies erscheint insofern hilfreich, da die Literatur zeigt, dass auch geringe Bestände an (liquiden) Vermögenswerten eine bilanzielle Beschränkung darstellen können. 17 Ein höherer Wert dieses Indikators zeigt an, dass die Verschuldung in einem geringeren Ausmaß durch Vermögenswerte gedeckt ist. Hierdurch erhöht sich die Gefahr, dass die bei einer Liquidierung der Vermögenswerte erlösten Mittel nicht zur Tilgung der Verschuldung ausreichen. Dies reduziert die langfristige Tragfähigkeit der Verschuldung.
Liquiditätsquote: Die Liquiditätsquote setzt liquide Vermögenswerte in Relation zum Gesamtvermögen. Ein niedriges Liquiditätsverhältnis kann auf Schwierigkeiten hinweisen, kurzfristige Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Unmittelbare Zahlungsverpflichtungen können folglich nur in geringerem Ausmaß durch den Abbau von Liquiditätsreserven gedeckt werden.
Schuldendienstquote: Die Schuldendienstquote setzt die Summe aus Zins- und Tilgungszahlungen ins Verhältnis zum verfügbaren Einkommen. 18 Eine steigende Schuldendienstquote bedeutet, dass die unmittelbaren Zahlungsverpflichtungen in geringerem Umfang aus dem laufenden Einkommen beglichen werden können. Hierdurch steigt für sich genommen die Gefahr kurzfristiger Zahlungsausfälle. Aus geldpolitischer Perspektive ist dieser Indikator zudem von besonderem Interesse, da die Zinszahlungen direkt durch das Zinsumfeld und somit durch die Geldpolitik beeinflusst werden.
Zinsaufwendungsquote: Die Zinsaufwendungsquote beschreibt die Zinsaufwendungen der nichtfinanziellen Unternehmen oder privaten Haushalte in Relation zu einer Einkommensgröße. Hierzu wird im Fall der nichtfinanziellen Unternehmen der Brutto-Betriebsüberschuss betrachtet. Somit gibt die Kennzahl Auskunft darüber, wie stark der operative Gewinn durch Zinsaufwendungen aufgezehrt wird. Im Fall der Haushalte wird auf das verfügbare Einkommen (brutto) zurückgegriffen. Zusätzlich wird auch die Netto-Zinsaufwendungsquote betrachtet. Hierbei werden die Zinsaufwendungen um Zinserträge bereinigt. Ein Anstieg beider Indikatoren weist bei einem gegebenen Einkommen auf eine erhöhte Belastung durch (Netto-)Zinsaufwendungen hin. Ähnlich wie die Schuldendienstquote wird auch dieser Indikator direkt durch das Zinsumfeld und somit durch die Geldpolitik beeinflusst.
Der vorliegende Aufsatz thematisiert die Bedeutung gesamtwirtschaftlicher Verschuldungsindikatoren für die geldpolitische Transmission. Heterogene Entwicklungen innerhalb eines Sektors bleiben dabei unbeachtet. Somit können unter Umständen von einzelnen Akteuren ausgehende Entwicklungen über- oder unterzeichnet werden. 19 Daher kann es notwendig sein, die aggregierte Betrachtung mit disaggregierten Informationen zu ergänzen, um ein vollständigeres Bild zu erhalten.
Das Schaubild 4.1 zeigt die Entwicklungen der Verschuldungsindikatoren zwischen dem Jahresende 2021 und dem Ende des dritten Quartals 2024 für die nichtfinanziellen Unternehmen sowie die Beiträge der einzelnen Komponenten. Der Analysezeitraum erstreckt sich vom Beginn der geldpolitischen Straffung bis an den aktuellen Datenrand. 20 Der untere Teil des Schaubilds dokumentiert die Entwicklung der einzelnen Indikatoren im Zeitverlauf seit dem Jahr 2000. Bei allen Kennzahlen bis auf die Liquiditätsquote deutet ein Anstieg auf eine Verschlechterung der Verschuldungslage hin.
Die Verschuldungsquote der nichtfinanziellen Unternehmen sank insgesamt seit Ende 2021 vor allem dank generell nominal gestiegener Einkommen. Im Aggregat erhöhten die nichtfinanziellen Unternehmen im Euroraum ihren Bestand an Schulden seit Jahresende 2021 lediglich leicht. Während insbesondere die Verschuldung in Deutschland und Frankreich weiter aufgebaut wurde, reduzierten die nichtfinanziellen Unternehmen in Spanien und teilweise auch in Italien hingegen ihre Verschuldung. Ungeachtet des im Aggregat zu beobachtenden Schuldenaufbaus sank die Verschuldungsquote über den gesamten Zeitraum spürbar. Haupttreiber dieser Entwicklung waren die nominal deutlich gestiegenen Einkommen im Zuge der wirtschaftlichen Erholung im Anschluss an die Corona-Pandemie. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch mit Blick auf den Verschuldungsgrad. Die Zunahme des Fremdkapitals blieb hinter dem Anstieg des Gesamtvermögens zurück, wodurch für sich genommen die langfristige Tragfähigkeit der Verschuldung verbessert wurde.
Die Liquiditätsquoten der nichtfinanziellen Unternehmen verlaufen nach pandemiebedingten Anstiegen wieder weitgehend im Einklang mit dem Vor-Corona-Trend. Während sich die Liquiditätsquote im Euroraum insgesamt und darunter auch in Frankreich und Italien reduzierte – insbesondere getrieben durch Zuwächse bei den übrigen Vermögenskomponenten –, legte sie in Deutschland und Spanien zu. Vorausgegangen war in allen Fällen jeweils ein deutlicher Anstieg dieser Quoten im Umfeld der Corona-Pandemie. Die nichtfinanziellen Unternehmen bauten Puffer für etwaige Liquiditätsengpässe auf, indem sie ihre Bestände an liquiden Aktiva in erheblichem Umfang aufstockten. Im Zuge der geldpolitischen Straffung und der damit einhergegangenen gestiegenen Opportunitätskosten der Geldhaltung reduzierten sich dann jedoch die Liquiditätsquoten wieder schrittweise. Derzeit liegen diese wieder nahe der trendmäßigen Vor-Corona-Entwicklungen. 21
Insbesondere zinsreagible Verschuldungsindikatoren der nichtfinanziellen Unternehmen verschlechterten sich im Rahmen der geldpolitischen Straffung. Die restriktiven geldpolitischen Maßnahmen in Reaktion auf die gestiegene Inflation trugen zu einem steigenden Zinsniveau bei. Dies erhöhte über alle Länder hinweg die Zinsaufwendungen deutlich: Die Zinsaufwendungsquoten in den vier Ländern und im Euroraum stiegen im Zuge der geldpolitischen Straffung merklich an. Besonders ausgeprägt war die Entwicklung in Frankreich. 22 Unter Berücksichtigung der gleichzeitig ebenfalls gestiegenen Zinseinnahmen fielen per saldo die gestiegenen Belastungen aufgrund höherer Zinsausgaben jedoch spürbar niedriger aus. 23 Diese Entwicklung machte sich letztlich auch bei den Schuldendienstquoten bemerkbar. Erhöhungen der Schuldendienstquoten sind dabei vor allem in Deutschland und Frankreich zu konstatieren. Den gestiegenen Zinsbelastungen standen zuletzt durchweg deutliche nominale Einkommenszuwächse gegenüber, die für sich genommen die Schuldentragfähigkeit gestützt haben.
3.2 Verschuldungsindikatoren des privaten Haushaltssektors
Bei den privaten Haushalten verringerten sich die Verschuldungsquoten über alle Länder hinweg deutlich (siehe Schaubild 4.2). Die Dynamik der Verschuldungsquoten war primär durch kräftig gestiegene Einkommen der privaten Haushalte getrieben, die zudem die Zunahmen bei der Verschuldung überkompensierten; lediglich in Spanien sank zusätzlich auch die Verschuldung in absoluter Betrachtung. Die seit Ende 2021 insgesamt moderate Schuldendynamik der privaten Haushalte muss dabei sicherlich auch vor dem Hintergrund der geldpolitisch induzierten Zinserhöhungen bis Mitte 2023 gesehen werden: Das gestiegene Zinsniveau dürfte die Kreditnachfrage und damit auch den Anstieg der Verschuldung gedämpft haben. Mit Blick auf den Verschuldungsgrad der privaten Haushalte ist für den Euroraum sowie für Deutschland, Spanien und Italien in der Tendenz eine vergleichbare Entwicklung im Betrachtungszeitraum erkennbar. Hierzu trugen sowohl die Geld- und Sachvermögensbildung als auch Bewertungsgewinne auf das Vermögen bei. In Frankreich erhöhte sich hingegen der Verschuldungsgrad, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass negative Bewertungseffekte – unter anderem auf indirekt über Lebensversicherungen gehaltene Schuldverschreibungen – die Zunahme des Gesamtvermögens dämpften.
In Teilen sind weiterhin deutliche Anstiege bei den Liquiditätsquoten der privaten Haushalte zu beobachten. Wie bei den nichtfinanziellen Unternehmen veränderte sich die Liquiditätsquote der privaten Haushalte über die Länder hinweg uneinheitlich. Während sie sich im Euroraum insgesamt und darunter vor allem in Deutschland und Frankreich weiter erhöhte, reduzierte sie sich in Italien und blieb in Spanien per saldo nahezu unverändert. Im Falle der Haushalte war zuvor ein pandemiebedingter deutlicher Anstieg dieser Quoten zu beobachten. Verantwortlich hierfür waren vor allem die eingeschränkten Konsummöglichkeiten. Dies führte letztlich zu zusätzlichen Ersparnissen, die zum Großteil in Form von liquiden Einlagen gehalten wurden. 24 Zwar setzte im Anschluss an die Pandemie eine gewisse Normalisierung dieser Entwicklung ein, dennoch verzeichneten im Euroraum insgesamt die liquiden Aktiva zum Teil recht hohe Zuflüsse. Die privaten Haushalte blieben trotz zuletzt kräftiger Einkommenszuwächse in ihren Konsumentscheidungen mitunter zurückhaltend, wodurch spiegelbildlich die Haushaltsersparnisse und damit auch liquide Anlageformen wieder an Bedeutung gewannen. 25
Gestiegene Zinseinnahmen wirkten höheren Zinsausgaben spürbar entgegen. Die Zinsaufwendungsquoten der privaten Haushalte stiegen im Euroraum insgesamt und in den vier Ländern merklich an. Besonders ausgeprägt war die Entwicklung in Frankreich. Das im Zuge der geldpolitischen Straffung gestiegene Zinsniveau erhöhte über alle Länder hinweg die Zinsaufwendungen. Werden den gestiegenen Zinsaufwendungen jedoch die ebenfalls gestiegenen Zinseinnahmen gegenübergestellt, so profitierten die Haushalte per saldo aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive. Lediglich die privaten Haushalte in Spanien sahen sich auch unter Berücksichtigung der gestiegenen Zinseinkommen höheren Zinsaufwendungen ausgesetzt. Die höheren Zinsbelastungen in Spanien dürfte vor allem auf die vergleichsweise hohe Bedeutung variabel verzinster Kredite zurückzuführen sein. 26 Ein steigendes Zinsniveau schlug sich somit tendenziell schneller in den gesamtwirtschaftlichen Zinsausgaben der privaten Haushalte nieder. Zudem ist erkennbar, dass sich die Schuldendienstquoten im Euroraum sowie in Deutschland, Spanien und Frankreich verbesserten. In Italien blieb sie auf einem sehr niedrigen Niveau nahezu unverändert. Zur insgesamt positiven Entwicklung im Betrachtungszeitraum trugen vor allem deutlich gestiegene Einkommen bei, welche die gestiegenen Zins- und Tilgungszahlungen mehr als kompensierten.
Gesamtwirtschaftliche Entwicklungen können sich auf Ebene der einzelnen Haushalte ganz unterschiedlich bemerkbar machen. Insbesondere liquiditätsbeschränkte Haushalte sehen sich negativen Zinsänderungsrisiken ausgesetzt: Sie verfügen typischerweise über ein negatives zinssensitives Nettovermögen. Das entsprechende Zinsänderungsrisiko der nicht liquiditätsbeschränkten Haushalte ist hingegen im Mittel positiv. Diese Unterschiede implizieren letztlich für sich genommen, dass sich im Falle eines Zinsanstiegs bei den liquiditätsbeschränkten Haushalten vor allem steigende Zinsausgaben bemerkbar machen; die nicht liquiditätsbeschränkten Haushalte können hingegen tendenziell steigende Zinseinnahmen vorweisen. Vor diesem Hintergrund gilt es somit zu beachten, dass Analysen auf Grundlage gesamtwirtschaftlicher Zeitreihen nur ein Teilbild zeichnen können. Zur Vervollständigung erscheint es daher hilfreich, auch mikrobasierte Analysen – zum Beispiel unter Einbeziehung der verteilungsbasierten Vermögensbilanz – heranzuziehen. 27
4 Zur Quantifizierung der Risiken verschuldungsbedingter bilanzieller Beschränkungen
Die Höhe der Verschuldungsindikatoren allein zeigt keine direkten bilanziellen Restriktionen, hierzu bedarf es kritischer Schwellenwerte. Durch die isolierte Betrachtung einzelner Verschuldungsindikatoren und deren Entwicklung im Zeitverlauf sind Rückschlüsse auf die Risiken bilanzieller Restriktionen nur unzureichend möglich. So kann auf Basis der einzelnen Werte der Verschuldungsindikatoren zu bestimmten Zeitpunkten sowie in der Gesamtschau nicht direkt auf verschuldungsbedingte bilanzielle Restriktionen geschlossen werden. Hierzu sind Vergleichswerte nötig. Mithilfe lokaler Projektionen für ein Panel der vier größten Länder des Euroraums wird daher bestimmt, ab welchem Verschuldungsniveau des nichtfinanziellen Privatsektors eine stärkere Transmission geldpolitischer Impulse im Einklang mit den oben dargelegten konzeptionellen Überlegungen zu erwarten ist. 28 Hierzu wird die Reaktion der Konsumausgaben privater Haushalte und der Investitionsausgaben nichtfinanzieller Unternehmen auf das Niveau verschiedener Verschuldungsindikatoren konditioniert. 29 Für alle betrachteten Verschuldungsindikatoren werden auf diese Weise letztlich länderspezifische kritische Schwellenwerte hergeleitet, bei dessen Überschreitung eine stärkere Transmission geldpolitischer Maßnahmen messbar ist. 30 Liegt die Ausprägung eines Verschuldungsindikators über dem ermittelten Schwellenwert, befindet sich ein Sektor definitionsgemäß in einem Zustand, in dem bilanzielle Beschränkungen ein Ausmaß angenommen haben, das das Ausgabeverhalten des betreffenden Sektors signifikant verändert. Bei Werten unterhalb des Schwellenwerts befindet er sich hingegen in einem Zustand ohne solche Beschränkungen.
Aktuell sowie während des Projektionszeitraums deuten die einzelnen Indikatoren in der Gesamtschau nicht auf bilanzielle Beschränkungen hin, die das Ausgabeverhalten signifikant verändern. Das Schaubild 4.3 veranschaulicht die Analyse der Risiken verschuldungsbedingter bilanzieller Beschränkungen für den Euroraum. Um die Dynamik einzelner Verschuldungsindikatoren besser vergleichen zu können, wurde der Wertebereich auf Basis der empirischen Verteilung vereinheitlicht: Die einzelnen Ausprägungen eines Indikators wurden auf Basis der kumulativen empirischen Dichteverteilung auf einen Wertebereich zwischen 0 und 100 normiert. 31 So kennzeichnen die Punkte die Abweichung vom jeweiligen sektoralen Schwellenwert, gemessen in Perzentilen. Werte rechts der vertikalen Nulllinie weisen demnach auf mögliche bilanzielle Restriktionen hin. Bis auf wenige Ausnahmen liegen die Ausprägungen für alle betrachteten Verschuldungsindikatoren deutlich unter den ermittelten Schwellenwerten. Bei den nichtfinanziellen Unternehmen weist lediglich die knapp unterhalb ihres Schwellenwerts liegende Zinsaufwendungsquote auf mögliche verschuldungsbedingte bilanzielle Restriktionen hin, was auf die deutlich gestiegenen Zinsaufwendungen im Zuge der geldpolitischen Straffung seit dem vierten Vierteljahr 2021 zurückzuführen ist. Besonders auffällig ist, dass die Verschuldungsquote nun wieder deutlich unterhalb ihres Schwellenwerts liegt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Verschuldung der nichtfinanziellen Unternehmen seit Beginn der Straffung nur leicht zugenommen hat, die Bruttowertschöpfung jedoch – insbesondere gegen Ende der Pandemie – merklich anstieg. Auch bei den privaten Haushalten ist der Abstand zum Schwellenwert der Verschuldungsquote deutlich gestiegen. Hier haben die nominalen Einkommen im Umfeld der hohen Inflationsraten kräftig zugenommen, während die nominale Verschuldung im gleichen Zeitraum nur leicht zulegte. Die Netto-Zinsaufwendungsquote privater Haushalte lag Ende 2021 noch deutlich über dem kritischen Schwellenwert. Die seitdem deutlich gestiegenen Zinseinnahmen der privaten Haushalte konnten jedoch die gestiegenen Zinsbelastungen mehr als kompensieren, sodass die Netto-Zinsaufwendungsquote sowohl am aktuellen Rand als auch gemäß eigener Projektionen bis Ende 2027 merklich unter dem kritischen Schwellenwert liegen dürfte. 32
Ein zusammenfassender Indikator ermöglicht einen Überblick über die Relevanz bilanzieller Beschränkungen. Zwar erfordert eine umfassende Einschätzung der Verschuldungslage die Betrachtung einer Vielzahl von Verschuldungsindikatoren. Gleichwohl wird hierdurch die Ableitung eines Gesamtbildes erschwert. Ergänzend zur Gesamtschau kann daher ein Indikator hilfreich sein, der die Rückschlüsse der einzelnen Verschuldungsindikatoren zusammenfasst. Ein solcher Indikator ermöglicht somit einen sofortigen Überblick über die Bedeutung bilanzieller Beschränkungen, die sich aus der Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors ergeben.
Der zusammenfassende Indikator berechnet sich als Anteil der Verschuldungsindikatoren, die auf bilanzielle Beschränkungen hinweisen. Sowohl für nichtfinanzielle Unternehmen als auch für private Haushalte wird für jeden Zeitpunkt berechnet, ob die Ausprägungen der betrachteten Verschuldungsindikatoren über den zuvor hergeleiteten kritischen Schwellenwerten liegen: Indikatoren, die über den Schwellenwerten liegen, erhalten eine Eins, die anderen eine Null. Der zusammenfassende Indikator bildet somit den ungewichteten Anteil der Verschuldungsindikatoren über alle Länder und Indikatoren ab, die auf bilanzielle Beschränkungen hinweisen. Je höher der Anteil der Indikatoren ist, der auf bilanzielle Beschränkungen hinweist, desto wahrscheinlicher ist eine verstärkte Wirkung der geldpolitischen Transmission. Neben einer rückblickenden Analyse erlauben die Projektionen zudem eine vorausschauende Einschätzung. Ein Nachteil des zusammenfassenden Indikators ist, dass sämtliche Verschuldungsindikatoren über alle Länder gleichgewichtet in die Konstruktion mit einfließen. Hierdurch gehen gegebenenfalls wichtige Informationen – etwa besonders kräftige Anstiege einzelner Indikatoren – verloren. Der Blick auf den zusammenfassenden Indikator kann daher die Betrachtung der Einzelindikatoren nicht ersetzen, sondern dient vor allem dazu, einen ersten Gesamteindruck zu erhalten. Zudem kann er leichter als die zahlreichen Einzelindikatoren in weiterführenden empirischen Analysen genutzt werden.
Der zusammenfassende Indikator zeigt insbesondere bilanzielle Restriktionen während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der europäischen Schuldenkrise an. Das Schaubild 4.4 zeigt den Indikator für den nichtfinanziellen Privatsektor insgesamt sowie für die nichtfinanziellen Unternehmen und privaten Haushalte. Hierbei ist zu erkennen, dass die zusammenfassenden Indikatoren getrennt nach Sektoren einen hohen zeitlichen Gleichlauf zeigen. Die Höchststände wurden hierbei während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der europäischen Schuldenkrise erreicht. Während dieser Zeit lagen für den gesamten nichtfinanziellen Privatsektor etwas mehr als 60 % aller Indikatoren über den kritischen Schwellenwerten. Im Anschluss hieran war bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie hingegen ein deutlicher Rückgang zu beobachten. Dies liegt daran, dass sowohl bei den privaten Haushalten als auch bei den nichtfinanziellen Unternehmen nach der europäischen Schuldenkrise eine Phase des Schuldenabbaus stattfand und zudem durch Zinssenkungen für sich genommen die Zinsbelastungen reduziert wurden. 33
Auch vorausblickend deutet der zusammenfassende Indikator momentan nicht auf eine in ihrer Wirkung durch die Verschuldung verstärkte geldpolitische Transmission hin. Das Niveau des im Schaubild 4.4 gezeigten zusammenfassenden Verschuldungsindikators (schwarze Linie) deutet weder am aktuellen Rand noch über den Projektionshorizont auf bilanzielle Restriktionen hin, die eine geldpolitische Transmission verstärken könnten. Gleichwohl sind geringfügige sektorale Unterschiede über den Projektionszeitraum erkennbar. So erscheint vor allem die Verschuldungssituation der privaten Haushalte im Euroraum im Großen und Ganzen eher unauffällig. Bei den nichtfinanziellen Unternehmen sind in Teilen erhöhte Belastungen bei den Zinsaufwendungs- und Schuldendienstquoten festzustellen.
Allgemein wirken geldpolitische Impulse stärker auf bilanziell beschränkte Haushalte und Unternehmen. Durch die Verdichtung der Informationen aus der Gesamtschau eignet sich der zusammenfassende Indikator für ökonometrische Zwecke. So kann damit etwa überprüft werden, ob ein höheres Ausmaß der bilanziellen Beschränkungen generell mit einer stärkeren geldpolitischen Transmission einhergeht (vgl. hierzu den Exkurs zu lokalen Projektionen zur Schätzung nichtlinearer Effekte). Hierzu wird mithilfe lokaler Projektionen für einen Paneldatensatz der vier größten Länder des Euroraums ein geldpolitischer Impuls mit dem zusammenfassenden Indikator interagiert. Die Gesamtreaktion ist in dem Fall nichtlinear und hängt vom Niveau des zusammenfassenden Indikators ab. Schaubild 4.5 zeigt jeweils die stilisierten durchschnittlichen Reaktionen über zwölf Quartale für die Konsumausgaben privater Haushalte sowie für die Investitionsausgaben nichtfinanzieller Unternehmen auf einen geldpolitischen Impuls. Die grauen Balken zeigen hierbei die durchschnittlichen Reaktionen für den Fall, dass der betrachtete Sektor im Aggregat jeweils bilanziell unbeschränkt ist. Dies ist dann der Fall, wenn der zusammenfassende Indikator den Wert null annimmt. Die blauen Balken hingegen zeigen die durchschnittlichen Reaktionen für den Fall, dass private Haushalte und nichtfinanzielle Unternehmen signifikant bilanziell beschränkt sind. 34 Unter Berücksichtigung des Ausmaßes an bilanziellen Beschränkungen spiegeln die Resultate folgende Reaktionen wider: Nichtfinanzielle Unternehmen und private Haushalte reduzieren in einem Umfeld breit angelegter bilanzieller Beschränkungen ihre Ausgaben in Reaktion auf einen geldpolitischen Impuls erheblich stärker im Vergleich zur Situation ohne bilanzielle Beschränkungen. Da das Ausmaß an bilanziellen Restriktionen am aktuellen Rand eher gering ist, ist derzeit nicht von einer in ihrer Wirkung verstärkten geldpolitische Transmission auszugehen.
Exkurs
Lokale Projektionen zur Messung nichtlinearer Effekte
Lokale Projektionen eignen sich zur Untersuchung möglicher nichtlinearer Effekte von exogenen Schocks. Vereinfacht gesagt besteht die Idee lokaler Projektionen darin, das zeitliche Profil einer Reaktion auf einen exogenen Schock direkt zu schätzen. Hierzu wird eine endogene Variable in mehreren Einzelschätzungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten \( t+h \) direkt auf einen Schock zum Zeitpunkt \( t \) regressiert. Die Folge der Koeffizienten auf den exogenen Schock kann dann als Impulsantwort interpretiert werden. Lokale Projektionen sind einfach zu implementieren und erfordern keine komplexen Annahmen bezüglich möglicher datengenerierender Prozesse. 1 Zudem ermöglichen lokale Projektionen die direkte Schätzung nichtlinearer Effekte exogener Schocks. 2 Hierzu wird der Effekt des Schocks etwa mit einer zusätzlichen erklärenden Variable interagiert. Solche Interaktionsterme eignen sich besonders dann, wenn analysiert werden soll, ob die Transmission exogener Schocks durch äußere Einflüsse verstärkt oder abgeschwächt wird. 3 Die Spezifikation selbst ist hierbei linear in den Parametern und somit mit der Methode der kleinsten Quadrate schätzbar. 4 Im Ergebnis entspricht der Gesamteffekt der Summe aus dem Durchschnittseffekt und dem zusätzlichen Effekt, der von der Ausprägung der Interaktionsvariable abhängt. Der Gesamteffekt ist somit nichtlinear.
Die Wirkung geldpolitischer Maßnahmen wird durch lokale Projektionen unter Berücksichtigung des Ausmaßes verschuldungsbedingter bilanzieller Beschränkungen geschätzt. Die Schätzung zur Wirkung geldpolitischer Maßnahmen unter Berücksichtigung des Ausmaßes bilanzieller Beschränkungen erfolgt mithilfe einfacher lokaler Projektionen für einen Paneldatensatz. Konkret werden die Konsumausgaben privater Haushalte und die Investitionsausgaben nichtfinanzieller Unternehmen auf einen geldpolitischen Impuls sowie weitere Kontrollvariablen regressiert. Die nichtlinearen Reaktionen können zum Beispiel ermittelt werden, indem der Anteil der Verschuldungsindikatoren des nichtfinanziellen Privatsektors, die auf bilanzielle Beschränkungen hindeuten, mit dem geldpolitischen Schock interagiert wird. Die Gesamtreaktion auf den geldpolitischen Schock ist somit nichtlinear und hängt vom Ausmaß verschuldungsbedingter bilanzieller Beschränkungen ab.
Quartalsdaten mehrerer Länder erhöhen durch die Paneldimension die Präzision der Schätzungen. Für die Schätzung werden Quartalsdaten vom ersten Vierteljahr 2001 bis zum vierten Vierteljahr 2023 für Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien herangezogen. Durch die Paneldimension wird die Anzahl der Beobachtungen erhöht, indem die Daten über verschiedene Länder kombiniert werden. 5 Dies hilft, die Verluste an Beobachtungen durch zeitlich verzögerte und vorlaufende Werte (Lags und Leads) zu kompensieren und führt zu präziseren Schätzungen. Die Spezifikation der Schätzgleichung ermöglicht die Identifikation der durchschnittlichen Euroraum-Reaktion der endogenen Variablen auf Änderungen der erklärenden Variablen. 6 Hierbei werden länderspezifische fixe Effekte berücksichtigt.
Die Schätzgleichung berücksichtigt das Ausmaß verschuldungsbedingter bilanzieller Restriktionen. Die Reaktionen auf den geldpolitischen Impuls werden mit dem Ausmaß bilanzieller Beschränkungen interagiert, sodass die Gesamtreaktion auf den geldpolitischen Impuls vom Ausmaß bilanzieller Beschränkungen abhängt. Konkret lautet die Schätzgleichung: $$ y_{i,t+h} = \alpha_{i,h} + \beta_h \varepsilon_t + \delta_h \left(\text{BilRes}_{i,t-1} \times \varepsilon_t\right) + \gamma_{i,h}(L) x_{i,t} + \psi_h(L) y_{i,t} + u_{i,t+h} $$
Hierbei ist \( y_{i,t+h} \)die makroökonomische Kenngröße in Land \( i \)zum Zeitpunkt \( t+h \). 7 \( \alpha_i \) ist eine länderspezifische Konstante, \( x_{i,t} \) ein Vektor mit (verzögerten) Kontrollvariablen 8 , \( \varepsilon_t \) ein geldpolitischer Schock und \( u_{i,t+h} \) ein Fehlerterm. Zusätzlich werden verzögerte Werte der jeweils endogenen Zeitreihe betrachtet. 9 Die Interaktionsvariable \( BilRes_{i,t-1} \) gibt den Anteil der Indikatoren an, die zum Zeitpunkt \( t-1 \) auf bilanzielle Beschränkungen hindeuten. Genauer nimmt die Interaktionsvariable den Wert eins an, wenn sämtliche betrachteten Verschuldungsindikatoren in allen betrachteten Ländern auf verschuldungsbedingte bilanzielle Beschränkungen hinweisen. Wenn hingegen über alle Länder hinweg keiner der betrachteten Verschuldungsindikatoren auf bilanzielle Beschränkungen hindeutet, so nimmt die Interaktionsvariable den Wert null an. Darüber hinaus kann \( BilRes_{i,t-1} \) auch Werte zwischen null und eins annehmen, etwa wenn über alle Länder hinweg nur einzelne Verschuldungsindikatoren auf bilanzielle Beschränkungen hindeuten. 10
Geldpolitische Schocks werden durch Marktzinsänderungen während EZB-Pressekonferenzen identifiziert. Die Identifikation des geldpolitischen Impulses basiert auf hochfrequenten Finanzmarktdaten, wobei Veränderungen von Marktzinsen unterschiedlicher Laufzeiten rund um ein sogenanntes Ereignisfenster gemessen werden. 11 Vereinfacht gesagt werden die Änderungen der Marktzinsen rund um die Pressekonferenz im Anschluss an die EZB-Ratssitzungen als Proxy für geldpolitische Schocks interpretiert. 12
Die Impulsantworten zeigen die Reaktionen der makroökonomischen Kenngrößen auf geldpolitische Schocks im Zeitverlauf. Der Koeffizient des geldpolitischen Schocks \( \beta_h \) zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestimmt die Höhe des Durchschnittseffekts. Der Gesamteffekt hingegen ergibt sich aus der Summe des Durchschnittseffektes sowie dem Effekt \( \delta_h \) multipliziert mit der Höhe der Interaktionsvariablen. 13 Auf Basis der geschätzten Koeffizienten kann somit überprüft werden, ob ein erhöhtes Ausmaß verschuldungsbedingter bilanzieller Beschränkungen die Wirkung geldpolitischer Maßnahmen verstärkt. Dies ist dann der Fall, wenn die Koeffizienten des Durchschnittseffektes und des Interaktionsterms dasselbe Vorzeichen haben. Haben die Koeffizienten hingegen unterschiedliche Vorzeichen, so wird der Gesamteffekt durch die Interaktion abgeschwächt.
5 Schlussbemerkung
Verschuldungsbedingte bilanzielle Beschränkungen besitzen eine geldpolitische Relevanz. Die vorliegende Analyse unterstreicht, dass bilanzielle Beschränkungen eine bedeutende Rolle für die Geldpolitik spielen können, indem sie die Wirkung geldpolitischer Maßnahmen verstärken. Dies wird vor allem dann relevant, wenn von Bilanzrestriktionen betroffene Akteure in ihren Konsum- und Investitionsentscheidungen beschränkt sind.
Zinssensitive Verschuldungsindikatoren haben sich erwartungsgemäß während der geldpolitischen Straffung verschlechtert. Die geldpolitischen Maßnahmen in Reaktion auf das Inflationsumfeld hinterließen Spuren in den Bilanzen des nichtfinanziellen Privatsektors des Euroraums. Aufgrund kräftiger Zinserhöhungen zeigten vor allem zinsreagible Komponenten wie Zinsaufwendungen und Schuldendienst Verschlechterungen an. Trotz dieser punktuellen Anstiege verschlechterte sich die Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors in ihrer Gesamtheit jedoch nicht wesentlich. Insbesondere gestiegene Einkommen leisteten einen entlastenden Beitrag.
Die aktuelle und zu erwartende Verschuldungslage deuten nicht auf breit angelegte bilanzielle Beschränkungen des nichtfinanziellen Privatsektors hin. Die vorliegende Analyse lässt mit Blick auf die aktuelle und zu erwartende Entwicklung der Verschuldungssituation des nichtfinanziellen Privatsektors keine breit angelegten verschuldungsbedingten Beschränkungen erkennen. Insofern legen die Resultate nahe, dass wegen der Verschuldung die geldpolitische Transmission nicht verstärkt wurde oder sich in naher Zukunft verstärken wird.
Es ist aus Zentralbanksicht notwendig, die Entwicklung der Verschuldungslage des nichtfinanziellen Privatsektors laufend zu beobachten. Nur so kann sichergestellt werden, dass etwaige Änderungen in der geldpolitischen Transmission, die sich aus der Verschuldungslage ergeben können, frühzeitig erkannt und gegebenenfalls bei der Kalibrierung des geldpolitischen Kurses berücksichtigt werden. Dabei sollten entsprechende Analysen idealerweise auch durch mikrobasierte Untersuchungen – beispielsweise auf Grundlage der verteilungsbasierten Vermögensbilanz – ergänzt werden. Ansonsten könnten relevante heterogene Entwicklungen übersehen werden, die typischerweise bei der alleinigen Betrachtung gesamtwirtschaftlicher Aggregate verborgen bleiben. 35
Literaturverzeichnis
Altavilla, C., L. Brugnolini, R. S. Gürkaynak, R. Motto und G. Ragusa (2019), Measuring euro area monetary policy, Journal of Monetary Economics, Vol. 108, S. 162 – 179.