Die Überprüfung des geldpolitischen Handlungsrahmens: Ausblick auf die Bilanz des Eurosystems und strukturelle Operationen Monatsbericht – Juni 2025
Veröffentlicht am 16.6.2025
Die Überprüfung des geldpolitischen Handlungsrahmens: Ausblick auf die Bilanz des Eurosystems und strukturelle Operationen Monatsbericht – Juni 2025
Monatsbericht
Die Überprüfung des geldpolitischen Handlungsrahmens: Ausblick auf die Bilanz des Eurosystems und strukturelle Operationen
Der geldpolitische Handlungsrahmen des Eurosystems umfasst die Instrumente und Verfahren, mit denen die nationalen Zentralbanken wie die Bundesbank die geldpolitischen Beschlüsse des EZB-Rats umsetzen. Dazu gehören neben den ständigen Fazilitäten insbesondere die Offenmarktgeschäfte. Den wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäften (HRG) – befristete besicherte Kredite an Banken im Euroraum – kommt traditionell eine Schlüsselrolle zu: Über sie steuert das Eurosystem Zinssätze und Liquidität am Markt und setzt Signale zum geldpolitischen Kurs.
In einem Umfeld zu niedriger Inflation und besonders niedriger Zinsen setzte der EZB-Rat von 2014 an ergänzende geldpolitische Sondermaßnahmen ein, um die geldpolitische Ausrichtung zusätzlich zu lockern. Insbesondere durch die geldpolitischen Wertpapierankaufprogramme (Asset Purchase Programme, APP und Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP) und die gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (GLRG) wuchs die Überschussliquidität im Bankensystem deutlich: Die Bilanz des Eurosystems weitete sich aus.
Mit Fälligkeit der letzten GLRG sind Bilanzsumme des Eurosystems und Überschussliquidität bereits erheblich zurückgegangen. Sie befinden sich aber weiterhin auf stark erhöhtem Niveau. Mit dem Abbau der umfangreichen geldpolitischen Wertpapierbestände wird die Bilanz über die nächsten Jahre kürzer, und die Überschussliquidität wird weiter abnehmen.
Im Vorgriff auf diese Entwicklungen beschloss der EZB-Rat im März 2024 Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen: Der geldpolitische Kurs soll wie zuletzt über den Zinssatz der Einlagefazilität gesteuert werden. Zu diesem Zweck wurde der Abstand zwischen den Zinssätzen für HRG und Einlagefazilität ab dem 18. September 2024 von 50 Basispunkten auf 15 Basispunkte reduziert, wobei Refinanzierungsgeschäfte weiterhin als Mengentender mit Vollzuteilung angeboten werden. Dies erhöht den Anreiz für Banken, Gebote für die Refinanzierungsgeschäfte abzugeben. Die rückläufige Überschussliquidität verstärkt diesen Anreiz. In der mittleren bis langen Frist wird sich deshalb der Umfang der Überschussliquidität aus der Nachfrage der Banken ergeben.
In der Folge dürfte der Zinssatz für die geldpolitischen Refinanzierungsgeschäfte auf längere Sicht gegenüber dem Einlagezinssatz an Bedeutung gewinnen.
Darüber hinaus sollen künftig Operationen eingeführt werden, die erheblich dazu beitragen werden, den strukturellen Liquiditätsbedarf des Bankensystems zu decken. Hierzu soll neben gesonderten strukturellen längerfristigen Refinanzierungsoperationen auch ein strukturelles Portfolio gehören. Die Ausgestaltung dieser strukturellen Operationen ist derzeit noch offen. Aus Sicht der Bundesbank lässt sich mit geeignet ausgestalteten strukturellen Refinanzierungsoperationen künftig der Großteil des strukturellen Liquiditätsbedarfs des Bankensystems decken. Solche Operationen dürften allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt werden, da das Bankensystem voraussichtlich noch für einige Jahre einen strukturellen Liquiditätsüberschuss gegenüber dem Eurosystem haben wird. Die Bundesbank erwartet die Einführung struktureller Refinanzierungsoperationen vor dem Aufbau eines strukturellen Portfolios.
Der EZB-Rat verständigte sich darüber hinaus auf Grundsätze, nach denen sich die Umsetzung der Geldpolitik in Zukunft richten soll, darunter Wirksamkeit und Effizienz. Auch der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ist in diesem Zusammenhang von hoher Bedeutung.
Basierend auf den zwischenzeitlich gesammelten Erfahrungen wird der EZB-Rat die wesentlichen Parameter des Handlungsrahmens im Jahr 2026 überprüfen. Die Bundesbank wird die weitere Ausgestaltung und Entwicklung des geldpolitischen Handlungsrahmens aktiv begleiten. Sie tauscht sich regelmäßig mit geldpolitischen Geschäftspartnern und anderen Marktteilnehmern über die Wirkungen des geldpolitischen Instrumenteneinsatzes aus, um ein klares Verständnis auch in einem sich fortlaufend verändernden Marktumfeld sicherzustellen. Design und Parameter des geldpolitischen Handlungsrahmens können und müssen erforderlichenfalls angepasst werden, um Liquidität und Geldmarktzinsen im Einklang mit dem Mandat des Eurosystems zu steuern.
1 Umsetzung der Geldpolitik im Euroraum: Instrumente und Rahmenwerk
Eine wichtige Grundlage für die Durchführung der einheitlichen Geldpolitik im Euroraum ist der vom EZB-Rat beschlossene geldpolitische Handlungsrahmen. 1 Dieser definiert allgemeine Regelungen für die Instrumente und Verfahren, mit denen die nationalen Zentralbanken des Eurosystems die geldpolitischen Beschlüsse des EZB-Rats dezentral umsetzen. Davon ist die geldpolitische Strategie abzugrenzen, auf deren Grundlage der EZB-Rat den geldpolitischen Kurs festlegt. 2 Dieser wird insbesondere durch die Leitzinsen signalisiert. Der geldpolitische Handlungsrahmen stellt die Instrumente bereit, um die kurzfristigen Zinsen am Markt in Einklang mit dem geldpolitischen Kurs zu bringen.
Innerhalb des allgemeinen Rahmens legt der EZB-Rat spezifische Ausgestaltungen der regelmäßig eingesetzten geldpolitischen Instrumente fest. Der geldpolitische Handlungsrahmen für das Eurosystem umfasst im Wesentlichen drei Gruppen geldpolitischer Instrumente: die ständigen Fazilitäten (bestehend aus Spitzenrefinanzierungs- und Einlagefazilität), das Mindestreservesystem und die Offenmarktgeschäfte (zu denen insbesondere die Refinanzierungsgeschäfte gehören). Die Bundesbank führt für die geldpolitischen Geschäftspartner mit Sitz oder Niederlassung in Deutschland unter anderem Mindestreservekonten, wickelt die geldpolitischen Refinanzierungsgeschäfte ab und bietet die ständigen Fazilitäten an. Sie nimmt darüber hinaus Sicherheiten für Refinanzierungsgeschäfte und die Spitzenrefinanzierungsfazilität herein, welche die Voraussetzung für diese Operationen bilden. Die Bundesbank überwacht die Zulässigkeit von Sicherheiten sowie die Erfüllung der Mindestreserve. Auf diese Weise leistet die Bundesbank einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Geldpolitik im Euroraum.
Die geldpolitischen Refinanzierungsgeschäfte dienen traditionell dazu, die Zinssätze und Liquidität am Markt zu steuern und Signale bezüglich des geldpolitischen Kurses zu setzen. Mit seinen regelmäßigen geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften stellt das Eurosystem Banken im Euroraum zeitlich befristet Liquidität in Form von Zentralbankguthaben zur Verfügung. Hierzu gehören einerseits die aufeinander folgenden, wöchentlich angebotenen HRG mit einwöchiger Laufzeit. Den HRG kommt traditionell eine Schlüsselrolle dabei zu, Zinssätze und Liquidität am Markt zu steuern und Signale bezüglich des geldpolitischen Kurses zu setzen. Darüber hinaus bietet das Eurosystem seinen Geschäftspartnern regelmäßig jeden Monat längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (LRG) mit einer Laufzeit von in der Regel drei Monaten an. 3
Im Oktober 2008 wurde für beide Operationen erstmals die Vollzuteilung eingeführt. Banken erhalten zum (festen) Hauptrefinanzierungssatz so viel Liquidität, wie sie nachfragen, wenn sie adäquate Sicherheiten hinterlegen. Seither können Banken bei den Refinanzierungsgeschäften in Summe mehr Liquidität erhalten, als sie zum Erfüllen der Mindestreserveverpflichtung benötigen. Im Aggregat entsteht dann Überschussliquidität, das heißt Guthaben der Banken auf Konten bei der Zentralbank, die das Reservesoll übersteigen. Im Ergebnis notieren kurzfristige Geldmarktsätze in Abhängigkeit vom Umfang der Überschussliquidität unterhalb des Zinssatzes für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte.
Weitere wichtige Instrumente zur Steuerung der kurzfristigen Zinsen sind die ständigen Fazilitäten. Spitzenrefinanzierungsfazilität und Einlagefazilität dienen dazu, Übernachtliquidität bereitzustellen beziehungsweise zu absorbieren, Signale bezüglich des geldpolitischen Kurses zu setzen und die kurzfristigen Geldmarktsätze nach oben beziehungsweise unten hin zu begrenzen. Banken können sich täglich Zentralbankreserven zum Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität (Spitzenrefinanzierungssatz) beschaffen, um einen kurzfristigen individuellen Liquiditätsbedarf zu decken. Der Spitzenrefinanzierungssatz liegt oberhalb des Zinssatzes für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte. Für die geldpolitischen Geschäftspartner werden dadurch gewisse Anreize gesetzt, sich benötigte Liquidität am Markt oder durch Teilnahme an regelmäßigen geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften zu beschaffen. Überschüssige liquide Mittel, die nicht zur Erfüllung der Mindestreserve 4 benötigt werden, können die Banken von ihren Konten zum Zinssatz für die Einlagefazilität (Einlagesatz) bei der Zentralbank anlegen. Der Einlagesatz liegt unterhalb des Zinssatzes für die HRG. Für die geldpolitischen Geschäftspartner bestehen je nach Höhe dieses Leitzinsabstands Anreize, überschüssige Liquidität am Geldmarkt anzubieten, sofern die relevanten Marktsätze oberhalb des Einlagesatzes notieren.
Der geldpolitische Handlungsrahmen des Eurosystems umfasst bereits seit Einführung des Euro auch verschiedene Instrumente zur Durchführung struktureller Operationen. Hierzu zählen befristete Transaktionen, endgültige Käufe beziehungsweise Verkäufe von Vermögenswerten (Outright-Geschäfte) sowie Emissionen von EZB-Schuldverschreibungen. Strukturelle Operationen zur Liquiditätsbereitstellung oder -absorption wurden jedoch bisher vom Eurosystem nicht eingesetzt.
2 Überschussliquidität durch geldpolitische Sondermaßnahmen
Das Eurosystem hat in der Vergangenheit flexibel auf besondere Situationen reagiert und dabei im Rahmen seines Mandats Instrumente eingesetzt, die über den geldpolitischen Handlungsrahmen hinausgingen. 5 Diese zielten auf eine geldpolitische Lockerung zusätzlich zur Absenkung der Leitzinsen ab und sollten beispielsweise “zur Aufrechterhaltung günstiger Kreditvergabekonditionen der Banken und zur reibungslosen Transmission der Geldpolitik“ 6 beitragen. Dazu gehörten unter anderem drei Serien GLRG seit 2014 sowie verschiedene geldpolitische Wertpapierankaufprogramme. Diese geldpolitischen Sondermaßnahmen sind zwar im geldpolitischen Handlungsrahmen so nicht vorgesehen, griffen jedoch teilweise Elemente daraus auf. Die GLRG orientierten sich operativ an den LRG, wenngleich sie andere Ziele verfolgten und wesentlich komplexer ausgestaltet waren 7 . Das 2014 beschlossene APP sowie das 2020 begonnene PEPP unterscheiden sich hingegen konzeptionell stärker von den im Handlungsrahmen angelegten “endgültigen“ Käufen (beziehungsweise Verkäufen) von Wertpapieren: Wertpapierkäufe beziehungsweise -verkäufe sind im geldpolitischen Handlungsrahmen lediglich als strukturelle Operationen vorgesehen, das heißt, um die strukturelle Liquiditätsposition des Bankensektors gegenüber dem Eurosystem anzupassen. Bei APP und PEPP ging es hingegen um eine zusätzliche geldpolitische Lockerung beziehungsweise im Fall des PEPP auch um die Reaktion auf Gefahren für das ordnungsgemäße Funktionieren des geldpolitischen Transmissionsmechanismus.
Geldpolitische Sondermaßnahmen schufen umfangreiche Überschussliquidität für längere Zeit. Durch die geldpolitischen Sondermaßnahmen wie GLRG,APP und PEPP wurde erheblich mehr Zentralbankliquidität geschaffen, als zur Erfüllung der Mindestreserve und zur Deckung des Liquiditätsbedarfs aus autonomen Faktoren erforderlich ist. 8 Diese wird als Überschussliquidität bezeichnet und von den Banken je nach Zinsbedingungen entweder in der Einlagefazilität oder auf sonstigen Konten bei der nationalen Zentralbank gehalten.
Mit den geldpolitischen Sondermaßnahmen hat das Eurosystem seine Bilanz stark ausgeweitet und dabei auch die Bilanzstruktur verändert. Waren geldpolitische Wertpapierportfolios bis zur Jahresmitte 2009 kein Bestandteil der Aktivseite des Eurosystems, erreichten sie 2022 ihren Höchstwert mit 4 970 Mrd € und einem Anteil an der gesamten Bilanzsumme von rund 60 %. Die Bestände aus den Wertpapier-Ankaufprogrammen sind nach wie vor die wesentliche Quelle der von Banken beim Eurosystem gehaltenen Guthaben. Auch die GLRG wurden aufgrund der zeitweise äußerst günstigen Zinskonditionen mit rund 2 200 Mrd € Ende 2022 in sehr großem Umfang genutzt. Die durch diese Maßnahmen entstandene Überschussliquidität erreichte 2022 ihren Höchstwert mit 4 658 Mrd € (siehe Schaubild 2.1). Im Ergebnis reduzierten diese geldpolitischen Sondermaßnahmen die Nachfrage der geldpolitischen Geschäftspartner bei den regulären HRG und LRG stark, sodass die regulären Geschäfte in den vergangenen zehn Jahren eine vergleichsweise geringe Rolle spielten.
Mit der Rückführung der Sondermaßnahmen gewinnen die regulären HRG und LRG wieder an Bedeutung. Die Inanspruchnahme der Refinanzierungsgeschäfte durch Geschäftspartner ist ein wesentlicher Bestandteil einer reibungslosen Durchführung der Geldpolitik. Die Teilnahme von Banken an diesen Geschäften ist vom Eurosystem erwünscht und mithin ein wichtiger Bestandteil des vom EZB-Rat beschlossenen nachfrageorientierten Ansatzes. 9 Dabei dürften verschiedene Einflussfaktoren die künftige Nachfrage der Geschäftspartner bei den Refinanzierungsgeschäften prägen: Primär ist das die strukturelle Liquiditätsposition des Bankensystems gegenüber dem Eurosystem, denn Banken müssen ein künftiges strukturelles Liquiditätsdefizit im Aggregat mindestens decken, um nicht gegen die Mindestreserveverpflichtung zu verstoßen. Darüber hinaus beeinflussen bankindividuelle Liquiditäts- und Refinanzierungskosten an den Märkten, die Liquiditätsregulierung, aber auch der Blickwinkel externer Stakeholder wie Investoren oder Ratingagenturen die Nachfrage. Von Januar bis Ende Mai 2025 fragten die geldpolitischen Geschäftspartner beim Eurosystem Refinanzierungsgeschäfte im Umfang von durchschnittlich 26 Mrd € nach. Der Anteil der Bundesbank daran betrug 4 Mrd €.
Die Überschussliquidität wird in den kommenden Jahren weiter allmählich zurückgehen, weil die geldpolitischen Wertpapierportfolios abgebaut werden. Im Mai 2025 betrug die Überschussliquidität durchschnittlich 2 754 Mrd €. Damit hat sie seit ihrem Hoch im November 2022 um 42 % abgenommen, liegt aber weiterhin auf stark erhöhtem Niveau. Wesentlichen Anteil am bisherigen Rückgang der Überschussliquidität hatte die Endfälligkeit der GLRG. 10 Seit Juli 2023 sinkt die Überschussliquidität vor allem aufgrund der Reduktion des Portfolios aus dem APP und seit Mitte 2024 zusätzlich aus dem PEPP. 11 Im selben Zeitraum nahmen die Einlagen öffentlicher Haushalte und ausländischer Zentralbanken stark ab, die zurzeit gemessen an Marktbedingungen weniger attraktiv verzinst werden als während der vergangenen Phase negativer Leitzinsen. 12
Die Erhöhung des Einlagesatzes in den positiven Bereich im September 2022 löste eine Verlagerung der Überschussliquidität von Girokonten in die Einlagefazilität aus. Nachdem das Eurosystem überschüssige Einlagen der geldpolitischen Geschäftspartner auf Girokonten grundsätzlich mit dem negativen Einlagesatz verzinste, sind diese im positiven Zinsumfeld unverzinst. Um von dem seit September 2022 wieder positiven Einlagezinssatz zu profitieren, verlagerten die geldpolitischen Geschäftspartner überschüssige Einlagen von ihren Konten bei der Zentralbank in die Einlagefazilität (siehe Schaubild 2.1).
Banken erzielen derzeit aufgrund des deutlich positiven Einlagesatzes und hoher Guthaben in der Einlagefazilität beträchtliche Zinserträge. 13 Dies gilt auch für die deutschen Institute, die gemessen an ihrer Bilanzsumme einen überproportional großen Anteil an der Überschussliquidität im Euroraum halten. Das wirft die Frage auf, inwiefern die sehr hohen Bestände an Zentralbankreserven in der Phase deutlicher Zinsanstiege die geldpolitische Transmission verändert haben könnten (siehe Exkurs „Welche Rolle können Zentralbankreserven bei der geldpolitischen Transmission des Bankensystems spielen?“).
Exkurs
Welche Rolle können Zentralbankreserven bei der geldpolitischen Transmission über das Bankensystem spielen?
Zentralbankreserven – als kurzfristige Aktivposition – können die Zinssensitivität des Bankensystems beeinflussen. Da das Kreditangebot eng mit der Einkommensposition von Banken zusammenhängt, könnten Reserven also die geldpolitische Transmission abschwächen, falls die (Netto-)Zinserträge von Banken von einer Leitzinserhöhung durch die Reserveverzinsung profitieren. Eine Analyse der Bundesbank legt nahe, dass das Kreditangebot von Banken mit höheren Reserven im Durchschnitt tatsächlich weniger stark auf die Zinserhöhungen ab 2022 reagierte als bei Banken mit niedrigen Reserven. 1 Dieses Ergebnis ist maßgeblich getrieben durch verbesserte (Netto-)Zinserträge von Banken mit hohen Reserven, sodass diese Banken ihr Kreditangebot weniger stark einschränken mussten. Allerdings basiert dieses Ergebnis nur auf einem Querschnittsvergleich von Banken innerhalb der letzten Zinserhöhungsphase. Unterschiede in der geldpolitischen Transmission im Querschnitt der Banken bedeuten aber nicht automatisch, dass sich die Transmission in einem Umfeld von knappen gegenüber üppigen Reserven grundsätzlich unterscheidet. Um sich dieser Frage zu nähern, wird im Folgenden untersucht, welchen Einfluss Zentralbankreserven auf die kurzfristige (Netto-)Zinssensitivität von deutschen Banken haben.
Wie der Netto-Zinsertrag der Banken auf (hypothetische) Zinsänderungen reagieren würde, lässt sich über die Einkommenslücke von Gomez et al. (2021) bestimmen. 2 Die Einkommenslücke ergibt sich als Differenz kurzfristiger zinstragender Aktiv- und Passivpositionen, wobei Zentralbankreserven als kurzfristige zinstragende Aktiva in die Berechnung der Einkommenslücke einfließen. 3 Sie gibt an, wie der kurzfristige (Netto-)Zinsertrag auf hypothetische Zinsänderungen reagieren würde. Eine positive Einkommenslücke bedeutet gemäß Gomez et al. (2021), dass eine Leitzinserhöhung das kurzfristige Zinseinkommen von Banken erhöht. In ihrer empirischen Studie für das US-Bankensystem finden die Autoren einen positiven Zusammenhang zwischen der Einkommenslücke und der geldpolitischen Transmission: Banken mit einer höheren Einkommenslücke schränken ihr Kreditangebot nach Leitzinserhöhungen weniger stark ein.
Zentralbankreserven beeinflussen auch im historischen Vergleich die Nettozinssensitivität von deutschen Banken. Schaubild 2.2 zeigt die Einkommenslücke und Zentralbankreserven für das deutsche Bankensystem seit Beginn der Währungsunion. Es zeigt sich, dass Zentralbankreserven in einem Umfeld üppiger Reserven maßgeblich die Entwicklung der Einkommenslücke treiben: Die Einkommenslücke steigt bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise, 4 schwankt ab 2008 stärker und wird dabei zunehmend von der Entwicklung der Zentralbankreserven getrieben. Mit der verstärkten Schaffung von Zentralbankreserven durch geldpolitische Sondermaßnahmen ab 2015 wird dieser Gleichlauf immer enger, und die pandemiebedingte Ausweitung der geldpolitischen Sondermaßnahmen ab April 2020 trägt maßgeblich zur Ausweitung der Einkommenslücke bei. 5 Mit dem einsetzenden Bilanzabbau des Eurosystems seit Anfang 2023 und der damit einhergehenden Reduktion von Zentralbankreserven sinkt die Einkommenslücke wieder.
Der durch die Zentralbankreserven getriebene Anstieg der Einkommenslücke deutet darauf hin, dass deutsche Banken in den letzten Jahren stärker von Zinserhöhungen profitierten als in der Vergangenheit. Lag die aggregierte Einkommenslücke Anfang 2015 noch bei 2,1 % der Bilanzsumme, liegt sie am aktuellen Rand bei 5,2 %. Das kurzfristige Netto-Zinseinkommen deutscher Banken würde demnach bei einem (hypothetischen) Anstieg der Leitzinsen mehr als doppelt so stark profitieren wie in der Vergangenheit. Falls deutsche Banken aufgrund des positiven Effekts auf die Einkommensposition ihr Kreditangebot weniger stark einschränken, würden hohe Zentralbankreserven die Transmission von Leitzinserhöhungen über das deutsche Bankensystem abschwächen. Zur genauen Quantifizierung solcher Effekte auf die geldpolitische Transmission sind weitere Analysen auf Basis von granularen Daten zu Kreditbeziehungen zwischen Banken und nichtfinanziellen Unternehmen notwendig, insbesondere um die Entwicklung des Kreditangebots isoliert zu betrachten.
3 Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen 2024
3.1 Wesentliche Parameter und Merkmale
Der EZB-Rat hat sich auf wesentliche Parameter und Merkmale für den geldpolitischen Handlungsrahmen verständigt. Im März 2024 beschloss der EZB-Rat Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen. Sie beziehen sich darauf, wie Zentralbankliquidität angesichts der in den kommenden Jahren nach wie vor erheblichen, aber allmählich sinkenden Überschussliquidität bereitgestellt wird. Die kurzfristigen Geldmarktsätze sollen so gesteuert werden, dass sie sich eng an den geldpolitischen Beschlüssen des EZB-Rats orientieren. 14 Die beschlossenen Änderungen haben keine Auswirkungen auf den geldpolitischen Kurs, die Zinspolitik oder den Abbaupfad der geldpolitischen Portfolios. 15 Sie sollen vielmehr vor dem Hintergrund der Bilanznormalisierung sicherstellen, dass die Verfahren und Instrumente zur Umsetzung der Geldpolitik weiterhin angemessen sind.
Wichtige Aspekte der bisherigen Umsetzung der Geldpolitik werden unverändert beibehalten. Die regelmäßig angebotenen geldpolitischen Refinanzierungsgeschäfte (HRG und LRG) werden auch künftig als Mengentender mit Vollzuteilung durchgeführt. Der EZB-Rat macht damit deutlich, dass er mit der Normalisierung der Bilanz des Eurosystems nicht zu einem System ausgeglichener Liquiditätsbedingungen zurückkehren möchte, wie es in der ersten Dekade des Euro bestand. Des Weiteren bleibt das Mindestreservesystem unverändert. 16 Auch in Zukunft werde es einen breit gefächerten Sicherheitenrahmen für Refinanzierungsgeschäfte geben. 17 Schließlich verständigte sich der EZB-Rat darauf, den geldpolitischen Kurs weiterhin über den Einlagesatz zu steuern. 18 Er erwartet, dass sich die kurzfristigen Geldmarktsätze in der Nähe des Einlagesatzes bewegen. Dabei könne eine gewisse Volatilität toleriert werden, solange das Signal zum beabsichtigten geldpolitischen Kurs dadurch nicht verzerrt werde. Es waren jedoch Änderungen bei der Umsetzung der Geldpolitik erforderlich, um dieses Ergebnis an den Märkten auch zu erzielen, nachdem sich die Bilanz normalisiert haben wird.
Als zentrale unmittelbare Änderung hat der EZB-Rat den Abstand zwischen Hauptrefinanzierungs- und Einlagesatz ab dem 18. September 2024 von 50 Basispunkten auf 15 Basispunkte verringert. Der EZB-Rat begründete diese Änderung damit, dass der geringere Abstand einen Anreiz zur Abgabe von Geboten in den wöchentlichen Tendern bieten wird, wodurch sich die kurzfristigen Geldmarktsätze in der Nähe des Einlagesatzes bewegen dürften. Der EZB-Rat erklärte zudem, dass der Abstand den Umfang potenzieller Schwankungen der kurzfristigen Geldmarktsätze begrenzen wird. Zugleich lässt er Spielraum für Geldmarktaktivitäten und bietet den Banken Anreize für marktbasierte Refinanzierungslösungen. Darüber hinaus sollen die HRG künftig wieder eine zentrale Rolle bei der Deckung des Liquiditätsbedarfs der Banken spielen. Dies dürfte so zu verstehen sein, dass der strukturelle Liquiditätsbedarf des Bankensektors teilweise auch durch HRG (und wohl – je nach Nachfrage der Institute – auch durch LRG) gedeckt werden soll, wobei letztlich die Banken selbst mit ihrem aggregierten Bietungsverhalten das resultierende Volumen an Überschussliquidität bestimmen werden.
Das Eurosystem wird Liquidität über ein breit gefächertes Instrumentarium bereitstellen und dazu neben den bisherigen geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften künftig auch strukturelle Operationen nutzen. Strukturelle Operationen dienen dazu, die strukturelle Liquiditätsposition des Bankensystems gegenüber dem Eurosystem zu beeinflussen. Eingeführt werden sollen diese Operationen allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich wenn sich wieder eine dauerhafte Ausweitung der Bilanz des Eurosystems abzeichnet (siehe dazu Abschnitt 4.2), das heißt, wenn die Entwicklung der Bilanz nicht mehr vom Abbau der Anleihebestände der Ankaufprogramme getrieben wird. Der EZB-Rat möchte dabei künftig sowohl strukturelle längerfristige Refinanzierungsoperationen als auch ein strukturelles Wertpapierportfolio nutzen. Beide Typen struktureller Operationen waren bereits von Anfang an im geldpolitischen Handlungsrahmen des Eurosystems als Option vorgesehen, wurden bislang jedoch nicht genutzt. Die weiteren Ausführungen des EZB-Rats zu strukturellen Operationen sind so zu verstehen, dass die angestrebte Überschussliquidität nicht durch strukturelle Operationen erzeugt werden soll: Die strukturellen Operationen sollen erheblich dazu beitragen, den strukturellen Liquiditätsbedarf des Bankensektors zu decken, ihn also nicht vollständig decken.
3.2 Grundsätze für die Ausgestaltung der operativen Geldpolitik
Der EZB-Rat verständigte sich auf sechs Grundsätze, nach denen sich die Umsetzung der Geldpolitik in Zukunft richten soll. Die wesentlichen Parameter und Merkmale des Rahmenwerks (siehe Abschnitt 3.1 dieses Aufsatzes), auf die sich der EZB-Rat verständigt hat, stehen im Einklang mit diesen Grundsätzen. Bei einer künftigen Anpassung der Parameter will der EZB-Rat sicherstellen, dass die Geldpolitik weiterhin im Einklang mit den festgelegten Grundsätzen 19 steht:
Wirksamkeit: Mit dem Handlungsrahmen soll in erster Linie die wirksame Umsetzung des geldpolitischen Kurses nach Maßgabe der Bestimmungen des EU-Vertrags 20 sichergestellt werden. Am besten lässt sich dies erreichen, indem die kurzfristigen Geldmarktsätze so gesteuert werden, dass sie sich eng an den geldpolitischen Beschlüssen orientieren. Eine gewisse Volatilität der Geldmarktsätze kann toleriert werden, solange das Signal zum beabsichtigten geldpolitischen Kurs dadurch nicht verzerrt wird.
Robustheit: Der Handlungsrahmen muss verschiedenen geldpolitischen Konfigurationen sowie unterschiedlichen Finanz- und Liquiditätsbedingungen standhalten. Zugleich muss er mit dem in der geldpolitischen Strategie der EZB beschriebenen Einsatz der geldpolitischen Instrumente im Einklang stehen. Das Eurosystem beabsichtigt, Zentralbankreserven über ein breit gefächertes Instrumentarium bereitzustellen, um dem Bankensystem eine wirksame, flexible und stabile Liquiditätsquelle zu bieten und dabei auch die Finanzstabilität zu unterstützen.
Flexibilität: Der Euroraum verfügt über einen großen Bankensektor, der eine ausgeprägte Vielfalt im Hinblick auf Größe, Geschäftsmodell und Standort der Banken aufweist. Eine flexible Versorgung mit Zentralbankreserven, die sich nach dem Bedarf der Banken richtet, ist daher am besten geeignet, Liquidität dem gesamten Bankensystem im ganzen Euroraum effektiv zuzuführen und dazu beizutragen, dass Liquiditätsschocks flexibel abgefedert werden.
Effizienz: Mit einem effizienten Handlungsrahmen wird der gewünschte geldpolitische Kurs umgesetzt und nicht beeinträchtigt. Ein solcher Rahmen berücksichtigt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und trägt den Nebenwirkungen zusammengenommen Rechnung, darunter Risiken für die Finanzstabilität. Außerdem sollte der Handlungsrahmen die finanzielle Solidität erhalten. Eine finanziell solide Bilanz unterstützt die Unabhängigkeit der Zentralbank und ermöglicht die reibungslose Durchführung der Geldpolitik.
Offene Marktwirtschaft: Der Handlungsrahmen soll so ausgestaltet sein, dass er mit einem reibungslosen und ordnungsgemäßen Funktionieren der Märkte vereinbar ist – das gilt auch für die Geldmärkte, die enger an die Umsetzung der Geldpolitik gekoppelt sind. Dies kommt einem effizienten Ressourceneinsatz, einem effektiven Preisbildungsmechanismus und der reibungslosen Transmission der Geldpolitik zugute.
Sekundärziel: Soweit verschiedene Konfigurationen des Handlungsrahmens die wirksame Umsetzung des geldpolitischen Kurses gleichermaßen sicherstellen, soll der Handlungsrahmen es der EZB ermöglichen, unbeschadet des vorrangigen Ziels der Preisstabilität, ihr Sekundärziel zu verfolgen, nämlich die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union zu unterstützen – insbesondere den Übergang zu einer grünen Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund sollen bei der Ausgestaltung des Handlungsrahmens klimabezogene Aspekte in die strukturellen geldpolitischen Geschäfte einbezogen werden.
Der EZB-Rat greift mit diesen Grundsätzen verschiedene Maßgaben der Europäischen Verträge auf und interpretiert sie. Der Grundsatz der Wirksamkeit steht nicht zufällig an erster Stelle: Die wirksame Umsetzung des geldpolitischen Kurses durch eine eng an den geldpolitischen Beschlüssen orientierte Steuerung der kurzfristigen Geldmarktsätze korrespondiert eng mit dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität. 21 Das Tolerieren einer gewissen Volatilität der Geldmarktsätze nimmt bereits implizit Bezug darauf, dass das Eurosystem im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb handelt. 22 Als Kennzeichen einer Marktwirtschaft kann beispielsweise gelten, dass sich Knappheiten, aber auch finanzielle Risiken in Finanzmarktpreisen und somit in Zinsen von Geldmarktgeschäften niederschlagen. Die Bedeutung marktwirtschaftlicher Grundsätze wird dadurch unterstrichen, dass der EZB-Rat sie nochmals als eigenständigen Grundsatz mitführt.
Die Grundsätze für die künftige Umsetzung der Geldpolitik enthalten darüber hinaus Wertungen des EZB-Rats ohne unmittelbaren Mandatsbezug, etwa auf Grundlage bisheriger Erfahrungen. Dies gilt insbesondere für die Grundsätze Robustheit, Flexibilität und Effizienz. Der Grundsatz der Robustheit unterfüttert dabei beispielsweise die Entscheidung, das Vollzuteilungsverfahren bei den regelmäßigen geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften auch unabhängig von den Liquiditätsbedingungen beizubehalten. Der ausdrückliche Hinweis auf finanziell solide Bilanzen des Eurosystems trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass verschiedene geldpolitische Sondermaßnahmen der jüngeren Vergangenheit im Ergebnis die Finanzen des Eurosystems nennenswert belastet haben. Der Einsatz regulärer geldpolitischer Instrumente, die den geldpolitischen Handlungsrahmen ausmachen, leistete hingegen keinen nennenswerten Beitrag zu den im Raum stehenden Ergebnisbelastungen.
Zwischen verschiedenen Grundsätzen können Zielkonflikte bestehen. Dies gilt etwa für den Grundsatz der Wirksamkeit und den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Letzterer legt einen ausreichend großen Abstand zwischen den einzelnen geldpolitischen Leitzinsen nahe, damit für die Banken Anreize bestehen, sich Liquidität und Finanzierungsmittel über die Märkte zu beschaffen. Eine zu große Schwankungsbreite der Zinsen könnte dabei die Signalfunktion der Leitzinssätze bezüglich des geldpolitischen Kurses beeinträchtigen und dem Grundsatz der Wirksamkeit entgegenstehen. Es gilt mithin, zwischen einer potenziellen Verringerung der Volatilität der Geldmarktsätze und den Folgen einer geringeren Marktaktivität abzuwägen. 23
Grundsätze können sich auch gegenseitig unterstützen. Ein Beispiel ist das mögliche Wechselspiel zwischen dem Grundsatz der Robustheit und dem Grundsatz der Flexibilität. Zum einen fördert Robustheit die Flexibilität: Ein Handlungsrahmen mit breitem Instrumentarium gewährt Banken mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen einen flexiblen und bedarfsgerechten Zugang zu Zentralbankreserven. Zum anderen stärkt Flexibilität die Robustheit: Eine flexible Versorgung mit Zentralbankreserven bildet eine Voraussetzung, dass der Handlungsrahmen sowohl in einem Umfeld knapper als auch üppiger Reserven funktioniert.
4 Wichtige Aspekte für die Überprüfung im Jahr 2026
4.1 Ausblick auf die künftige Zentralbankbilanz
Die Bilanz des Eurosystems wird kürzer; künftig bestimmt verstärkt die Nachfrage der Banken nach Zentralbankkrediten die Überschussliquidität. Derzeit wird die Überschussliquidität im Wesentlichen durch die geldpolitischen Wertpapierbestände bereitgestellt. Im Zuge des graduellen Bilanzabbaus wird in den kommenden Jahren die Nachfrage der Banken bei den geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften zunehmend die Höhe der Überschussliquidität beeinflussen.
Mit dem Übergang zu einer nachfrageorientierten Bereitstellung der Zentralbankliquidität verändert sich auch die Zusammensetzung der Zentralbankbilanz. Auf der linken Seite von Schaubild 2.3 ist die heutige Bilanzstruktur des Eurosystems schematisch abgebildet. Die rechte Seite des Schaubilds 2.3 zeigt eine stilisierte Bilanz des Eurosystems, wie sie sich künftig darstellen könnte. Mit dem graduellen Abbau des geldpolitischen Wertpapierportfolios nimmt der Anteil der regulären geldpolitischen Refinanzierungsgeschäfte (HRG und LRG) auf der Aktivseite kontinuierlich zu.
Hauptrefinanzierungsgeschäfte sollen künftig eine zentrale Rolle bei der Deckung des Liquiditätsbedarfs des Bankensektors spielen. Banken werden mit voranschreitender Bilanznormalisierung zunehmend regelmäßig an den HRG und LRG teilnehmen. Im Aggregat bestimmen künftig die Geschäftspartner selbst durch ihr Bietungsverhalten die Höhe der Überschussliquidität. Dabei erreichen Refinanzierungsgeschäfte viele geldpolitische Geschäftspartner. Die Höhe der nachgefragten Überschussliquidität könnte im Zeitverlauf schwanken. Aus Sicht der geldpolitischen Geschäftspartner dürfte die Nachfrage bei den regelmäßigen Refinanzierungsgeschäften nennenswert durch das jeweilige Geschäftsmodell und die relevanten bankindividuellen Liquiditäts- und Finanzierungskosten an den Märkten beeinflusst sein. Zudem können neue Technologien im Finanzsektor (zum Beispiel Distributed Ledger Technology) eine Rolle spielen, deren Implikationen aktuell nicht genau absehbar sind. Die relative Vorteilhaftigkeit geldpolitischer Refinanzierungsgeschäfte im Vergleich zu marktbasierten Liquiditäts- und Finanzierungsquellen für die einzelnen Institute dürfte auch durch Aspekte der Regulierung, namentlich der Liquiditätsregulierung, geprägt werden.
Anforderungen der Liquiditätsregulierung dürften künftig ebenfalls die Nachfrage bei Refinanzierungsgeschäften beeinflussen. So müssen Banken im Rahmen der Liquiditätsdeckungsquote (Liquidity Coverage Ratio, LCR) einen Mindestbestand an qualitativ hochwertigen, liquiden Aktiva (High-Quality Liquid Assets, HQLA) halten, um rechnerische Liquiditätsabflüsse zu decken. 24 Bei den HQLA handelt es sich im Wesentlichen um Wertpapiere, die annahmegemäß auch in Stressphasen zuverlässig marktfähig und zumeist auch zentralbankfähig sind, Zentralbankreserven sowie Bargeldbestände in Form von Banknoten und Münzen. Die Erfüllung der LCR soll sicherstellen, dass Banken einem durch die Regulierungsanforderungen definierten Liquiditätsstress für eine gewisse Zeit standhalten. Zuletzt haben die Banken die LCR-Anforderungen auch angesichts sehr hoher Überschussliquidität im Durchschnitt deutlich übererfüllt. Infolge der abnehmenden Überschussliquidität sinkt seit Anfang 2022 der Anteil der Zentralbankreserven an den gesamten HQLA der Banken im Eurosystem.
Wenn Banken Zentralbankreserven über Refinanzierungsgeschäfte erhalten und dafür Sicherheiten wie beispielsweise Kreditforderungen nutzen, die selbst keine HQLA sind, verbessert sich ihre LCR. Diese Sicherheitentransformation tritt unabhängig von der (Rest-)Laufzeit der Refinanzierungsgeschäfte ein, da für Zentralbankkredite in der LCR kein Abfluss zu berücksichtigen ist. 25 Das Vollzuteilungsverfahren sowie der fixe Abstand zwischen Hauptrefinanzierungs- und Einlagesatz macht diesen regulatorischen Effekt einer Teilnahme an geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften für die Geschäftspartner gut kalkulierbar. Bei einem geringen Abstand muss das Eurosystem zwischen der potenziellen Verringerung der Volatilität und einer geringeren Marktaktivität mit möglicherweise höherer Sicherheitentransformation abwägen (siehe Abschnitt 3.2 dieses Aufsatzes). 26 In diesem Zusammenhang können Wechselwirkungen zwischen bankaufsichtlicher Regulierung und Geldpolitik auftreten.
Der von 50 Basispunkten auf 15 Basispunkte verringerte Abstand zwischen Hauptrefinanzierungs- und Einlagesatz erhöht für sich genommen die Anreize zur Sicherheitentransformation. Zunächst ist es bei niedrigem Abstand zwischen Hauptrefinanzierungs- und Einlagesatz für die Institute attraktiv, den durch die LCR bedingten HQLA-Bedarf mithilfe der Sicherheitentransformation zu decken. Die damit verbundene Nachfrage nach Refinanzierungsgeschäften kann sich mit der Ausgestaltung geldpolitischer Instrumente verändern. Weiterhin dürften bei rückläufiger Überschussliquidität die kurzfristigen Marktzinsen im Vergleich zum Hauptrefinanzierungssatz zunehmen und Anreize für die Banken schaffen, an Refinanzierungsgeschäften teilzunehmen. Refinanzierungsgeschäfte für Zwecke der LCR-Erfüllung würden so zukünftig attraktiver. Dadurch könnte die LCR einen mittelbaren Einfluss auf die Nachfrage nach Zentralbankkrediten und somit auf die Länge der Bilanz des Eurosystems nehmen. Aufgrund der bislang noch geringen Nachfrage nach HRG und LRG und des voranschreitenden Bilanzabbaus des Eurosystems dürfte der Umfang der Sicherheitentransformation künftig steigen. Perspektivisch wäre eine Ausweitung des Zinsabstands zwischen Einlagesatz und Zinssatz für HRG eine Möglichkeit, die Nachfrage bei geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften und die Erfüllung der regulatorischen Liquiditätsanforderungen durch die Banken stärker voneinander zu trennen.
Der weitere Bilanzabbau beim Eurosystem könnte für sich genommen dazu führen, dass die durchschnittliche LCR der Banken sinkt. Die aktuell erhebliche Menge an Überschussliquidität hat zu einer hohen durchschnittlichen Übererfüllung der LCR-Anforderungen beigetragen. 27 Banken könnten deshalb auf den Rückgang der bereitgestellten Überschussliquidität mit einer verstärkten Nachfrage nach Refinanzierungsgeschäften mit der Zentralbank reagieren, um über Sicherheitentransformation das bisherige LCR-Niveau zu erhalten. Gleichzeitig könnte sich aufgrund des Bilanzabbaus die LCR-Übererfüllung im gesamten System reduzieren. 28 Ein insgesamt niedrigeres LCR-Niveau könnte die Höhe der bankindividuellen, internen Limits der LCR-Erfüllung nach unten beeinflussen und so die regulatorische Nachfrage bei den Refinanzierungsgeschäften im Vergleich zu einer Situation mit unverändert hohen bankindividuellen LCR-Zielen reduzieren. 29
Der Zeitpunkt der künftigen Einführung struktureller Operationen ist ebenso offen wie deren Gesamtvolumen. Strukturelle Operationen sollen gemäß Erklärung des EZB-Rats eingeführt werden, wenn sich wieder eine dauerhafte Ausweitung der Bilanz des Eurosystems abzeichnet. In den kommenden Jahren wird die Bilanz des Eurosystems voraussichtlich erheblich schrumpfen – vor allem, weil die seit 2014 vom Eurosystem im Rahmen der geldpolitischen Ankaufprogramme erworbenen Wertpapiere nach und nach fällig werden, während gleichzeitig die Nachfrage bei den regelmäßigen geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften ausgehend von sehr niedrigem Niveau zunächst langsam zunehmen dürfte. Das Eurosystem schätzt die Überschussliquidität Ende 2027 auf etwa 1 500 Mrd € (bei einem geldpolitischen Wertpapierbestand von noch etwa 2 800 Mrd €, siehe Schaubild 2.1). Die künftige Überschussliquidität, die sich aufgrund der aggregierten Nachfrage der geldpolitischen Geschäftspartner bei HRG und LRG einstellt, dürfte jedoch niedriger zu veranschlagen sein.
Bei konstanten autonomen Faktoren kann der Umfang der Bilanz des Eurosystems zunehmen, wenn das nachgefragte Volumen von HRG und LRG dauerhaft schneller wächst, als die geldpolitischen Wertpapierbestände durch Fälligkeit abnehmen. In diesem Fall wäre die vom EZB-Rat genannte Bedingung für die Einführung struktureller Refinanzierungsoperationen erfüllt. Daneben kann die Bilanz des Eurosystems auch durch das trendmäßige Wachstum von autonomen Faktoren dauerhaft zunehmen. Ein weiterer Orientierungspunkt für die künftige allmähliche Einführung struktureller Operationen ist der strukturelle Liquiditätsbedarf des Banksektors (der sich aus autonomen Faktoren und Mindestreserveanforderungen ergibt): Laut Erklärung des EZB-Rats sollen die strukturellen Operationen zu dessen Deckung erheblich beitragen. Im Ergebnis würde ein strukturelles Liquiditätsdefizit verbleiben, dessen Umfang noch zu bestimmen wäre. Das nachgefragte Volumen an HRG und LRG würde das verbleibende Liquiditätsdefizit und die künftige Überschussliquidität umfassen. Das Eurosystem beobachtet die Entwicklung der Liquiditätsbedingungen und der strukturellen Liquiditätsposition des Bankensektors, um einen sachgerechten Startzeitpunkt für erste strukturelle Operationen zu bestimmen. Aus Sicht der Bundesbank ist es wünschenswert, zunächst Informationen zur tatsächlichen Nachfrage des Bankensystems nach Refinanzierungsgeschäften zu erhalten, um strukturelle Operationen zum passenden Zeitpunkt einzuführen. Die Bundesbank erwartet die Einführung struktureller Refinanzierungsoperationen vor dem Aufbau eines strukturellen Portfolios.
Offen ist auch, wie der EZB-Rat die strukturellen Operationen zwischen strukturellen Refinanzierungsoperationen und einem strukturellen Portfolio aufteilen wird. Zentralbanken können Reserven bereitstellen, indem sie besicherte Kredite vergeben (Refinanzierungsoperationen) oder Vermögensgegenstände wie Anleihen kaufen. Die Aufteilung sollte dabei den in Abschnitt 3.2 dargestellten Grundsätzen entsprechen. So dürften strukturelle Refinanzierungsoperationen im Vergleich zu einem strukturellen Wertpapierportfolio kürzere Laufzeiten aufweisen. Wertpapierbestände eines strukturellen Portfolios können prinzipiell handelstäglich angepasst werden. Somit werden beide Typen geldpolitischer Operationen dem Grundsatz der Flexibilität in unterschiedlicher Weise gerecht. Ein strukturelles Portfolio kann mit vergleichsweise geringem operativen Aufwand langfristig Liquidität bereitstellen und erfüllt insoweit einen Aspekt des Grundsatzes der Effizienz. 30 Im Gegensatz zu besicherten Refinanzierungsoperationen gehen Zentralbanken hier aber auch ein höheres Ausfallrisiko und, je nach Ausgestaltung der Operationen, ein höheres Zinsänderungsrisiko ein.
Es ist naheliegend, bei der künftigen schrittweisen Einführung struktureller Operationen zunächst mit Refinanzierungsoperationen zu beginnen. Wenn das Bankensystem sich in einigen Jahren in Richtung eines strukturellen Liquiditätsdefizits bewegt, werden sich immer noch erhebliche Altbestände an Anleihen auf der Bilanz des Eurosystems befinden. Der EZB-Rat hat angekündigt, diese bei den strukturellen Operationen zu berücksichtigen. Die Entscheidung über die künftige langfristige Aufteilung des Volumens wäre unter Einbeziehung der Spezifikation der strukturellen Refinanzierungsoperationen einerseits und des strukturellen Portfolios andererseits zu treffen. Sämtliche Entscheidungen wären unter Berücksichtigung der in Abschnitt 3.2 erläuterten Grundsätze und des Mandats inklusive seiner rechtlichen Grenzen zu treffen. Aus Sicht der Bundesbank lässt sich mit geeignet ausgestalteten strukturellen Refinanzierungsoperationen künftig der Großteil des strukturellen Liquiditätsbedarfs des Bankensystems decken. Grundsätzlich erscheint eine höhere Bereitstellung über strukturelle Refinanzierungsoperationen vorteilhaft, da diese mehr geldpolitische Geschäftspartner erreicht als Wertpapierankäufe für Zwecke eines strukturellen Portfolios.
Die Modalitäten des künftigen strukturellen Portfolios sind noch festzulegen. Neben dem Startzeitpunkt für erste Ankäufe im Rahmen des Portfolios (unter Berücksichtigung der Altbestände an Anleihen im APP- und PEPP-Portfolio), der durchschnittlichen Laufzeit des Portfolios und dem Aufbaupfad wäre unter anderem festzulegen, welche Anleiheklassen, Restlaufzeiten oder Bonitäten zu erwerben wären. Diese Parameter beeinflussen das ankaufbare Universum an Wertpapieren. Das zu bestimmende Zielvolumen des Portfolios und das ankaufbare Universum müssen dabei in einer sinnvollen Relation stehen. Soweit ein strukturelles Portfolio Anleihen des öffentlichen Sektors enthalten sollte, muss es Parameter enthalten, die insbesondere seine Vereinbarkeit mit dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung sicherstellen.
Auch die Ausgestaltung der strukturellen längerfristigen Refinanzierungsoperationen wird noch eingehend analysiert. Sie sind von LRG abzugrenzen, denn je ähnlicher die Geschäfte ausgestaltet sind, desto wahrscheinlicher sind Wechselwirkungen. Neben der Häufigkeit der Durchführung und der Laufzeit, dem Bietungs- und Zuteilungsverfahren, den akzeptierten Sicherheiten sowie den Zinsmodalitäten ist ebenfalls festzulegen, wie sich die Geschäfte in den Tenderkalender mit den HRG und LRG einfügen sollen. Regelmäßige Unterbietungen wären nach Möglichkeit zu vermeiden. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, die Geschäfte als Zinstender mit begrenztem Zuteilungsvolumen durchzuführen, die gegebenenfalls einen nicht zu hohen Mindestbietungssatz aufweisen können. Gegenüber dem Mengentender mit vorgegebenem Zins ermöglicht ein Zinstender den Banken, individuelle Zinsen zu bieten. Dies stärkt den Grundsatz der offenen Marktwirtschaft.
5 Fazit
Derzeit bestimmen die geldpolitischen Wertpapierbestände wesentlich die Überschussliquidität. Deren Abbau führt zu einer kürzeren Bilanz des Eurosystems. Die Beschlüsse des EZB-Rats vom 13. März 2024 haben den geldpolitischen Handlungsrahmen wesentlich verändert: Seit September 2024 liegt der Abstand zwischen Hauptrefinanzierungs- und Einlagesatz bei 15 Basispunkten. Künftig bestimmen Banken mit ihrer Nachfrage nach HRG und LRG die Höhe der Überschussliquidität. Darüber hinaus sollen künftig strukturelle Operationen erheblich dazu beitragen, den strukturellen Liquiditätsbedarf des Bankensektors zu decken. Deren Startzeitpunkt, Volumen sowie Aufteilung zwischen Refinanzierungsoperationen und Portfolio sind noch ungewiss. Auch das Design der neuen längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte und des neuen strukturellen Portfolios wird noch eingehend analysiert.
Basierend auf den zwischenzeitlich gesammelten Erfahrungen wird der EZB-Rat die wesentlichen Parameter des Handlungsrahmens im Jahr 2026 überprüfen. Die Bundesbank wird die weitere Ausgestaltung und Entwicklung des geldpolitischen Handlungsrahmens begleiten. Sie bringt sich zu diesem Zweck in den Gremien des Eurosystems aktiv ein. Gemeinsam mit den Partnern im Eurosystem analysiert die Bundesbank, wie sich das Finanzsystem an den Abbau der geldpolitischen Wertpapierbestände und den damit einhergehenden Rückgang der Überschussliquidität anpasst. Das engmaschige Monitoring umfasst verschiedene Indikatoren und insbesondere auch die Einflussfaktoren der Nachfrage nach Zentralbankreserven. Zudem ist das unterschiedliche Nachfrageverhalten in Abhängigkeit von Bankgeschäftsmodellen von Interesse. Die Bundesbank tauscht sich regelmäßig mit geldpolitischen Geschäftspartnern und anderen Marktteilnehmern über die Wirkungen des geldpolitischen Instrumenteneinsatzes aus. Das vertieft das Verständnis der Implikationen von Anpassungen am Handlungsrahmen in verschiedenen Marktsegmenten. Die Bundesbank bringt relevante Erkenntnisse und Analyseergebnisse in den Überprüfungsprozess ein.
Der EZB-Rat hat seine Bereitschaft erklärt, das Design und die Parameter des Handlungsrahmens erforderlichenfalls früher anzupassen, um sicherzustellen, dass die Geldpolitik weiterhin im Einklang mit den festgelegten Grundsätzen steht. Ein Indikator hierfür könnte beispielsweise ein Rückgang marktbasierter Bankenrefinanzierung sein. Bisherige Beobachtungen legen nahe, dass der graduelle Bilanzabbau die Rolle von Interbankenmärkten und die flexible Umverteilung von Zentralbankreserven über Bankengruppen und Ländergrenzen hinweg fördert. 31 Das Eurosystem beobachtet, inwiefern sich der Abstand zwischen Einlagezinssatz und Zinssatz für HRG von 15 Basispunkten bewährt und ob gegebenenfalls Anpassungen sinnvoll sind. Auch in Zukunft wird eine reibungslose Implementierung der Geldpolitik sichergestellt.