Überblick Finanzstabilitätsbericht 2024

Vor einem Jahr stand das deutsche Finanzsystem nach dem stärksten Zinsanstieg der vergangenen 25 Jahre vor großen Herausforderungen. In der langen Phase niedriger Zinsen, seit Ende der globalen Finanzkrise bis Mitte 2022, hatten sich im deutschen Finanzsystem erhebliche Verwundbarkeiten aufgebaut. Diese hatten das Finanzsystem – also Finanzintermediäre, -märkte und deren Infrastruktur – anfällig für verschiedene Schocks gemacht. Die gute Wirtschaftsentwicklung und die stetig gesunkenen Kreditausfälle hatten die Einschätzung der mittelfristigen Kreditrisiken immer schwieriger gestaltet und eine Unterschätzung der Risiken wahrscheinlicher gemacht. Die Risikovorsorge war angesichts geringer Ausfallraten niedrig, das Kreditwachstum äußerst dynamisch. Es kam zu Überbewertungen an den Märkten für Vermögenswerte, etwa bei Wohnimmobilien, womit die Kreditsicherheiten ebenfalls überwertet wären. Daneben bestanden bei Banken große Zinsänderungsrisiken und bei Lebensversicherern wegen hoher Zinsgarantien Ertrags- und Solvenzrisiken.

Die hohe Inflation und die im Jahr 2022 eingeleitete Zinsanstiegsphase hatten bis Ende 2023 deutliche Spuren hinterlassen. Das gesamtwirtschaftliche Umfeld hatte sich grundlegend verändert und die Verwundbarkeiten wurden teilweise aufgedeckt. Die hohe Inflation, die angespannte konjunkturelle Entwicklung und das höhere Zinsniveau lasteten auf den Einkommen der Haushalte und den Gewinnen der Unternehmen. Die Immobilienmärkte befanden sich im Abschwung. Die Kreditrisiken waren daher gestiegen. Bereits im Jahr 2022 hatten Bewertungsverluste bei zinstragenden Vermögenswerten zu Verlusten und stillen Lasten in den Bilanzen der Banken und Versicherer geführt. In diesem Umfeld war das Risiko ungeordneter Entwicklungen erhöht.

Ende des Jahres 2023 war die Transmission der hohen Leitzinsen in die Realwirtschaft noch nicht abgeschlossen und es war schwer abzuschätzen, wie sich die Transmission in das Finanzsystem weiter fortsetzen würde. So war unklar, wie stark steigende Zinsaufwendungen bei Banken deren künftigen Zinsüberschuss beeinflussen könnten, ungeachtet eines guten Jahres 2023, bei dem die Banken von niedrigen Einlagenzinsen profitieren konnten. Bei Lebensversicherern war ungewiss, ob Liquiditätsrisiken in Form von hohen Vertragsstornierungen eintreten würden. Gleichzeitig bestand Unklarheit darüber, wie lang und stark die Korrektur an den Immobilienmärkten ausfallen würde. Angesichts der Kombination aus erhöhten Zinsen und realwirtschaftlicher Schwäche bestand zudem Unklarheit über die weitere Entwicklung der Kreditrisiken in den Bilanzen der Finanzintermediäre.

Das makrofinanzielle Umfeld hat sich seit dem vergangenen Jahr schrittweise verbessert, bleibt jedoch herausfordernd. (siehe Abschnitt 4 ,,Stabilitätslage im deutschen Finanzsystem"). Insgesamt zeichnet sich im Euroraum und in Deutschland eine Rückkehr zur Preisstabilität ab; im Juni 2024 begann die EZB

daher, die Leitzinsen zu senken. Gleichwohl hält die wirtschaftliche Schwächephase in Deutschland an, allerdings sind krisenhafte Verwerfungen nicht zu erwarten. Erhöhte Risiken bestehen nach wie vor bei Gewerbeimmobilien. Auch der Unternehmenssektor wird durch die schwache konjunkturelle Entwicklung und den Strukturwandel belastet. Insgesamt sind ungeordnete Entwicklungen im Vergleich zum Vorjahr weniger wahrscheinlich geworden, doch geopolitische Spannungen bergen deutliche Abwärtsrisiken (siehe Exkurs: ,,Geopolitische Risiken: Auswirkungen auf die Finanzstabilität").

Die deutschen Banken haben die Zinsanstiegsphase insgesamt gut verkraftet und zeigen sich stabil. (siehe Abschnitt 4.2 ,,Bankensystem: Verwundbarkeiten und Resilienz"). Da die Zinsen auf täglich fällige Einlagen überraschend wenig gestiegen sind, ist die Gewinnlage der Banken komfortabel. Die hohen Verwundbarkeiten aus der Niedrigzinsphase bauen sich bislang geordnet, aber nur allmählich ab. Dies gilt insbesondere bei Wohnimmobilienkrediten. Bei den Gewerbeimmobilienkrediten sind die Risiken weiterhin hoch. Die Kapitalausstattung der Banken ist solide. Da die Wertverluste zinstragender Positionen während des Zinsanstiegs vielfach nicht ausgewiesen werden mussten, fielen die Eigenkapitalquoten relativ hoch aus. Die erheblichen stillen Lasten haben sich mittlerweile deutlich abgebaut. Die durchschnittlichen Risikogewichte sind nach wie vor niedrig und unterschätzen möglicherweise bestehende Kreditrisiken. Sollten die Risikogewichte aufgrund zunehmender Kreditrisiken stark steigen, würde dies zu einem Rückgang der risikogewichteten Kapitalquoten führen.

Die deutschen Nichtbank-Finanzintermediäre (NBFI

) haben die Zinsanstiegsphase ebenfalls gut bewältigt, doch bestehen bei ihnen weiterhin Liquiditätsrisiken. (siehe Abschnitt 4.3 ,,Nichtbank-Finanzintermediäre: Verwundbarkeiten und Resilienz"). Die Liquiditätsrisiken bei offenen Immobilienfonds könnten die Entwicklungen am Gewerbeimmobilienmarkt verstärken. Kündigungs- und Mindesthaltefristen begrenzen die Liquiditätsrisiken von offenen Immobilien-Publikumsfonds. Für den Lebensversicherungssektor sind die Anlagerisiken aus Gewerbeimmobilien überschaubar, auch aufgrund der soliden Eigenmittelausstattung. Liquiditätsrisiken von Lebensversicherern bleiben hingegen erhöht, auch wenn das Risiko einer Kündigungswelle begrenzt ist. Stille Lasten mindern die Anreize der Lebensversicherer, in Stressphasen aktiv zu handeln und bei stark gefallenen Preisen Wertpapiere zu kaufen. In der Folge federn sie Schocks im Finanzsystem möglicherweise weniger stark ab als bisher.

Angesichts der Gesamtrisikolage bleibt eine ausreichende Resilienz des deutschen Finanzsystems weiterhin von zentraler Bedeutung. (siehe Abschnitt 4.4 ,,Gesamteinschätzung und Implikationen für die makroprudenzielle Politik"). Das von der BaFin

im Januar 2022 verkündete makroprudenzielle Maßnahmenpaket mit dem antizyklischen Kapitalpuffer (Countercyclical Capital Buffer, CCyB) und dem sektoralen Systemrisikopuffer (Sectoral Systemic Risk Buffer, sSyRB) bleibt angemessen. Die Abwärtsrisiken sind weiterhin hoch und die konjunkturelle Entwicklung ist für den Unternehmenssektor herausfordernd. Das Risiko von adversen Schocks bleibt vor dem Hintergrund aktueller geopolitischer Spannungen hoch. Der Abschwung bei den Gewerbeimmobilienmärkten setzte sich im Verlauf des Jahres 2024 fort, wenn auch mit abgeschwächter Dynamik. Die sich gegenwärtig abzeichnende Entwicklung am Wohnimmobilienmarkt deutet auf langsam zurückgehende Risiken bei den bis zum Jahr 2022 vergebenen Wohnimmobilienkrediten hin. Insgesamt ist ein geordneter Abbau der Verwundbarkeiten am Wohnimmobilienmarkt wahrscheinlicher geworden. Die makroprudenzielle Überwachung wird die weiteren Entwicklungen aufmerksam beobachten, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der seit dem Jahr 2023 erhobenen Daten zu den Kreditvergabestandards neu vergebener Immobilienkredite.

Die makroprudenzielle Politik entwickelt sich weiter. Um eine dauerhafte Resilienz der Banken zu gewähren, muss die makroprudenzielle Aufsicht gerade auch in Stressphasen handlungsfähig bleiben. Vor diesem Hintergrund hat eine Reihe europäischer Länder ihre makroprudenzielle Strategie für den Bankensektor angepasst. Sie aktivieren den CCyB

tendenziell frühzeitiger und haben teilweise eine Zielquote für den CCyB eingeführt, auch wenn zyklische Risiken nicht erhöht sind. (siehe Exkurs: ,,Der ökonomische Nutzen freigebbarer Kapitalpuffer und die Positive Neutrale Quote"). Bei der Regulierung von NBFI sollte die makroprudenzielle Perspektive gestärkt werden, vor allem hinsichtlich der Liquiditätsrisiken. Dies ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil sich über Verflechtungen Probleme bei NBFI rasch auf den Bankensektor ausbreiten können. Um Risiken aus der grenzüberschreitenden Verflechtung mit NBFI insbesondere in Europa besser einschätzen zu können, sollte zudem eine Grundlage für den europäischen Datenaustausch geschaffen werden. Ebenso sollten auf der internationalen Ebene, etwa im Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board, FSB), Wege gefunden werden, die globalen Finanzstabilitätsrisiken bei NBFI besser einschätzen zu können.

Das Finanzsystem muss sowohl mit dem realwirtschaftlichen Strukturwandel als auch mit den Strukturveränderungen im Finanzsystem selbst, wie der Digitalisierung, umgehen. Klimapolitik und Klimawandel treiben strukturelle Veränderungen in Realwirtschaft und Finanzsystem. In einem Sonderkapitel werden Risiken aus einem überraschenden und unmittelbaren Anstieg der CO-Preise für das deutsche Finanzsystem untersucht (siehe Abschnitt 5 Sonderkapitel: ,,Risiken aus einem überraschenden und unmittelbaren CO-Preisanstieg"). Die Auswirkungen dürften isoliert betrachtet beherrschbar sein, ein vorhersehbarer klimapolitischer Kurs verringert jedoch grundsätzlich Klimarisiken. Die konsequente Offenlegungspflicht von CO-Emissionen hilft, die Auswirkungen von Klimarisiken zu begrenzen und sollte weiterhin verfolgt werden. Ein weiterer Treiber des Strukturwandels in Realwirtschaft und Finanzsystem ist die Digitalisierung. Der diesjährige Finanzstabilitätsbericht befasst sich mit der Frage, wie sich die Einführung eines digitalen Euro auf das Bankensystem auswirkt (siehe Exkurs: ,,Digitaler Euro: Auswirkungen auf Bankenliquidität und Finanzierungskosten").

Darüber hinaus beleuchtet der Bericht strukturelle Veränderungen im Finanzsystem, die aus der gestiegenen Bedeutung von NBFI

und der Verflechtung von Banken mit NBFI entstehen. (siehe Abschnitt 4.3 ,,Nichtbank-Finanzintermediäre: Verwundbarkeiten und Resilienz" und Exkurs: ,,Ansteckungskanäle zwischen Banken und Investmentfonds"). Ein Sonderkapitel vergleicht die Markt- und Halterstruktur des deutschen und italienischen Staatsanleihemarktes sowie des Repomarktes, in dem diese Staatsanleihen als Sicherheit genutzt werden (siehe Abschnitt 6 Sonderkapitel: ,,Deutsche und italienische Staatsanleihemärkte aus Finanzstabilitätsperspektive"). Das gemeinsame Projekt der Bundesbank mit der Banca d'Italia zeigt diverse Unterschiede: Während italienische Staatsanleihen hauptsächlich über eine regulierte elektronische Handelsplattform gehandelt und zentral gecleart werden, dominiert bei deutschen Staatsanleihen der außerbörsliche bilaterale Handel. Zudem werden deutsche Staatsanleihen überwiegend von ausländischen Investoren sowie im Euroraum ansässigen Investmentfonds gehalten. Italienische Staatsanleihen werden hingegen hauptsächlich von heimischen Banken und Versicherern gehalten. In beiden Märkten spielen NBFI eine wichtige Rolle. Ihr Verhalten ist entscheidend für die Preisfindung und Schockausbreitungsmechanismen im Finanzsystem, was wiederum die Liquidität betreffen kann.

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