Hauptergebnisse der Überprüfung der geldpolitischen Strategie 2024/2025 Monatsbericht – Juli 2025

Monatsbericht

Das Eurosystem hat zwischen Juli 2024 und Juni 2025 ausgewählte Elemente seiner geldpolitischen Strategie überprüft. Die Strategieüberprüfung 2024/2025 wurde bereits bei der vorherigen Überprüfung 2020/2021 beschlossen und soll die seitdem gesammelten Erfahrungen berücksichtigen. Die Strategieüberprüfung 2024/2025 stand vor allem unter dem Eindruck des abrupten und kräftigen Anstiegs der Inflationsraten 2021/2022 sowie eines von hoher Unsicherheit und Volatilität geprägten Umfelds. Diesen Erfahrungen trägt die überarbeitete Strategie Rechnung. 

Der EZB-Rat (EZBR) bekräftigt den mittelfristigen Horizont seines Inflationszieles. Die mittelfristige Orientierung ermöglicht eine flexible, den Umständen angemessene geldpolitische Reaktion. Ein zentraler Aspekt bei der Umsetzung der mittleren Frist bleibt die Verankerung der Inflationserwartungen. Das symmetrische Inflationsziel von 2 % sowie der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) als Indikator zur Quantifizierung des Preisstabilitätsziels waren nicht Gegenstand der Prüfung, da sie sich nach Einschätzung des EZBR bewährt haben.

Um Preisstabilität zu gewährleisten, betont die überarbeitete Strategie die Notwendigkeit kraftvoller oder lang anhaltender geldpolitischer Maßnahmen sowohl bei stark und anhaltend positiven als auch bei stark und anhaltend negativen Abweichungen vom Inflationsziel. Die dabei zu ergreifenden geldpolitischen Maßnahmen müssen angesichts der hohen Unsicherheit flexibel ausgestaltet werden, um eine zeitnahe und angemessene Reaktion auf Veränderungen im Inflationsumfeld zu ermöglichen. Aus Sicht der Bundesbank sollte das Eurosystem das Instrument umfangreicher Wertpapierankäufe an der Zinsuntergrenze zukünftig auch unter dem Blickwinkel möglicher damit verbundener bilanzieller Risiken bewerten.

Die überarbeitete Strategie hebt schließlich hervor, Risiken und Unsicherheiten bei geldpolitischen Entscheidungen systematisch und kontextbezogen zu berücksichtigen. Das Eurosystem unterstreicht hierfür unter anderem die Bedeutung von Szenario- und Sensitivitätsanalysen. 

1 Einleitung

Eine stabilitätsorientierte Geldpolitik erfordert eine geldpolitische Strategie. Eine geldpolitische Strategie ordnet nach innen, also innerhalb des Eurosystems, wie geldpolitische Einschätzungen gebildet und Entscheidungen abgeleitet werden. Nach außen, also gegenüber den Marktteilnehmern und der breiten Öffentlichkeit, macht sie die Geldpolitik nachvollziehbar. Sie dient als Orientierung für die Inflationserwartungen und stärkt das Vertrauen in die Zentralbanken des Eurosystems und die Geldpolitik insgesamt. Konkret beschreibt die geldpolitische Strategie insbesondere, auf welche ökonomischen Größen und Zusammenhänge der EZBR seine Entscheidungen stützt, wie er das Ziel der Preisstabilität operationalisiert und welche Instrumente er zur Zielerreichung einsetzt. 

Geldpolitische Strategien müssen angesichts sich wandelnder gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen regelmäßig überprüft und an neue Erkenntnisse angepasst werden. Während die Strategieüberprüfung des Eurosystems 2020/2021 noch vor dem Hintergrund anhaltend niedriger Inflationsraten und der Notwendigkeit wirksamer expansiver Impulse an der effektiven Zinsuntergrenze 1 erfolgte, sah sich die Geldpolitik im Euroraum anschließend mit einem abrupten und kräftigen Anstieg der Inflationsrate sowie einem von hoher Unsicherheit und Volatilität geprägten Umfeld konfrontiert. Die nun abgeschlossene Strategieüberprüfung 2024/2025 trägt diesen Erfahrungen Rechnung.

Gemäß der überarbeiteten Strategie 2 zielt der EZBR darauf ab, sowohl anhaltend negative als auch anhaltend positive Abweichungen der Inflationsraten vom Inflationsziel zu vermeiden. In der Strategieüberprüfung 2020/2021 wurde die Notwendigkeit kraftvoller oder lang anhaltender Maßnahmen insbesondere bei negativen Abweichungen vom Inflationsziel betont, um den Beschränkungen der effektiven Zinsuntergrenze Rechnung zu tragen. Aufgrund der Erfahrungen mit dem starken Anstieg und dem zeitweilig sehr hohen Niveau der Inflationsraten seit Ende 2021 betont die überarbeitete Strategie, dass der EZBR kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen künftig auch bei stark und anhaltend positiven Abweichungen vom Inflationsziel ergreifen wird. Gemäß den Analysen der Strategieüberprüfung 2024/2025 bleiben die effektive Zinsuntergrenze und das damit verbundene Risiko einer Entankerung der Inflationserwartungen nach unten weiter relevant. 3 Aber auch in einem Umfeld größerer inflationärer Schocks, wie sie in der jüngeren Vergangenheit auftraten, besteht die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen, und zwar nach oben. Daher betont die überarbeitete Strategie die Notwendigkeit, kraftvolle oder lang anhaltende Maßnahmen auch bei stark und anhaltend positiven Abweichungen vom Inflationsziel zu ergreifen und ergänzt in diesem Sinne die bisherige Strategie.

Darüber hinaus betont die überarbeitete Strategie angesichts des Inflationsanstiegs in den Jahren 2021 und 2022, wie wichtig es ist, die Geldpolitik vor dem Hintergrund der hohen Unsicherheit flexibel auszugestalten. Andauernde strukturelle Veränderungen, geprägt durch geopolitische Fragmentierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz, Demografie, Klimawandel und Veränderungen im internationalen Finanzsystem, lassen künftig ein Inflationsumfeld erwarten, das unsicherer und volatiler sein dürfte, als es in der Vergangenheit war. Dies erfordert, geldpolitische Instrumente ausreichend flexibel auszugestalten und umzusetzen, um eine zeitnahe und angemessene Reaktion auf Veränderungen im Inflationsumfeld zu ermöglichen.

Die überarbeitete Strategie hebt zudem die Notwendigkeit hervor, Risiken und Unsicherheiten bei geldpolitischen Entscheidungen zu berücksichtigen und unterstreicht in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Szenario- und Sensitivitätsanalysen. Angesichts eines unsichereren und volatileren Inflationsumfelds ist es wünschenswert, dass die Geldpolitik nicht nur den wahrscheinlichsten Pfad der Inflation und der Realwirtschaft berücksichtigt, sondern auch Risiken und Unsicherheiten systematisch in den Blick nimmt.

2 Referenz: Hauptergebnisse der Strategieüberprüfung 2020/2021

Die letzte Strategieüberprüfung des Eurosystems 2020/2021 stand unter dem Eindruck des damaligen Niedriginflations- und Niedrigzinsumfelds. Ein wesentliches Ergebnis bestand darin, zu einem symmetrischen Inflationsziel von 2 % in der mittleren Frist zu wechseln. Im Fokus der Strategieüberprüfung 2020/2021 stand die damalige Formulierung des Politikziels, da die Vermutung im Raum stand, dass sie mitverantwortlich für die damalige dauerhaft negative Abweichung der Inflationserwartungen vom Inflationsziel gewesen war. 4 Im Ergebnis entschloss sich das Eurosystem im Juli 2021 zu einem symmetrischen Inflationsziel von 2 % überzugehen, um die Verankerung der Inflationserwartungen zu stärken. Symmetrie bedeutet in diesem Zusammenhang, negative Abweichungen vom Zielwert als ebenso unerwünscht zu erachten wie positive. Das symmetrische Inflationsziel hat sich in den Jahren seit der Strategieüberprüfung bewährt 5 und war daher nicht Gegenstand der Strategieüberprüfung 2024/2025.

Die Strategierevision 2020/2021 bestätigte den HVPI als Indikator zur Quantifizierung des Preisstabilitätsziels und schlug einen Fahrplan zur Integration von selbst genutztem Wohneigentum vor. Durch eine perspektivische Integration der Kosten für selbst genutztes Wohneigentum (owner occupied housing, OOH) in den HVPI sollte eine Lücke in der Repräsentativität des HVPI beseitigt werden. 6 Das Eurosystem veröffentlichte dafür einen Fahrplan (Roadmap). 7 Dieser wurde bisher jedoch nur teilweise eingehalten, da im Europäischen Statistischen System (ESS) bisher kein Konsens über die geeignete Methode zur Integration von OOH in den HVPI erzielt wurde und das ESS zu dieser Frage daher zunächst ein Forschungsprogramm aufgesetzt hat. Der Wunsch des Eurosystems nach Integration der Kosten von selbst genutztem Wohneigentum mit dem Nettoerwerbsansatz als präferierte Methode hat jedoch nichts von seiner Gültigkeit verloren. Insbesondere der Wunsch nach Veröffentlichung amtlicher Gewichte für OOH und experimenteller HVPIs inklusive OOH durch Eurostat wurde bekräftigt. 8

Die Zinsuntergrenze stellt in einem Niedriginflationsumfeld eine besondere Herausforderung dar und wurde daher in der Strategierevision 2020/2021 in besonderer Weise berücksichtigt. Die Zinsuntergrenze begrenzt die Möglichkeiten der Geldpolitik bei stark disinflationären oder deflationären Schocks durch Senkungen der geldpolitischen Zinsen expansive Impulse zu setzen. Daher wurde damals vereinbart, kraftvolle oder lang anhaltende Maßnahmen bei negativen Abweichungen vom Inflationsziel in einem Niedrigzinsumfeld zu ergreifen, um der Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen nach unten vorzubeugen. Zudem wurden die nominalen Politikzinsen der EZB als primäres Instrument bestätigt. Gleichzeitig wurden geldpolitische Maßnahmen wie Wertpapierankaufprogramme, gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte und Forward Guidance 9 , die an der Zinsuntergrenze kraftvoll oder lang anhaltend eingesetzt werden können, explizit in den Instrumentenkasten des Eurosystems aufgenommen.

3 Verändertes wirtschaftliches Umfeld seit der Strategieüberprüfung 2020/2021

Von Mitte 2021 bis Ende 2022 – und damit nach Abschluss der Strategierevision 2020/2021 – schnellte die Inflationsrate im Euroraum in die Höhe. Ab Mitte 2021 stieg die Inflationsrate im Euroraum innerhalb kurzer Zeit von Raten um 2 % auf zweistellige Werte und erreichte mit 10,6 % ihren Höhepunkt im Oktober 2022. Diese Akzeleration der Inflationsrate im Euroraum war eingebettet in eine globale Hochinflationsphase 10 und betraf alle Länder des Euroraums. Seit Beginn der Währungsunion hatte man im Euroraum noch nie derart hohe Inflationsraten. 11

Teuerungsrate im Euroraum
Teuerungsrate im Euroraum

Die Akzeleration der Inflationsrate war verursacht durch vielfältige, zum Teil neuartige Schocks auf der Angebotsseite, aber auch durch die aufgestaute Nachfrage während der Corona-Pandemie. 12 Durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns kam es in vielen Bereichen vorübergehend zu Produktionsausfällen sowie zu einem Einbruch der Rohstoffpreise, und auch die Nachfrage nach bestimmten Gütern und Dienstleistungen (Restaurants, Reisen) ging stark zurück. Mit dem Auslaufen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zog die aufgestaute Nachfrage, verstärkt durch umfangreiche geld- und fiskalpolitische Stützungsmaßnahmen, wieder kräftig an und verursachte einen starken Anstieg der Rohstoffpreise. Da die Produktion mit der rasch steigenden Nachfrage nicht Schritt halten konnte, kam es weltweit zu Lieferengpässen, was den Preisauftrieb zusätzlich anheizte. 

Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stiegen die Rohstoffpreise vor allem für Energie, aber auch für Nahrungsmittel sprunghaft an. Seit April 2021 begannen die Erdgaspreise stark zu steigen, vor allem wegen der deutlich reduzierten russischen Gaslieferungen in die EU. Nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine trieben weitere Kürzungen russischer Gaslieferungen und Sorgen vor einem kompletten Lieferstopp die Erdgaspreise sowie die Großhandelspreise für Strom weiter kräftig nach oben. 13 Außerdem verstärkte sich der Auftrieb vieler Nahrungsmittelpreise merklich, nicht zuletzt wegen der wichtigen Rolle Russlands und der Ukraine als Exporteure von Agrarrohstoffen. 14

Die vielfältigen Schocks beeinflussten zunehmend die Preise vieler Konsumgüter und Dienstleistungen, auch weil Margen und Löhne ebenfalls anzogen. Durch die höheren Rohstoffnotierungen verteuerte sich allmählich die Produktion von Waren in zahlreichen Sektoren, und auch im Dienstleistungsbereich schlugen sich die gestiegenen Kosten zunehmend in den Verbraucherpreisen nieder. Insgesamt kam es zu starken sektoralen Preisverschiebungen in Abhängigkeit des jeweiligen Preissetzungsverhaltens der unterschiedlichen Anbieter. Gleichzeitig gelang es den Arbeitnehmern in einem robusten Arbeitsmarktumfeld, Kompensationen für die reale Entwertung ihrer Lohneinkommen einzufordern. Folglich verstärkte sich das Lohnwachstum. 

Nach Erreichen des Höhepunkts der Inflation Ende des Jahres 2022 sank die Inflationsrate im Euroraum allmählich wieder, vor allem wegen der nachlassenden Rohstoffpreisdynamik, des wieder niedrigeren Lohnstückkostenwachstums und der restriktiveren Geldpolitik. Zuletzt schwankte die Inflationsrate im Euroraum um 2 %, und auch die mittelfristigen Aussichten sind im Einklang mit Preisstabilität. 

Das Ausmaß des Inflationsanstiegs überraschte Prognostiker auch in den Notenbanken, sodass es zu hohen Prognosefehlern kam. Im Sommer 2021 lag die Inflationsprognose für das Jahr 2022 noch bei 1,5 %. Tatsächlich betrug die jahresdurchschnittliche Inflationsrate dann 8,4 %. Ab spätestens Ende 2021 mussten die Prognosen wiederholt und in zunehmendem Maße aufwärtsrevidiert werden. Das galt nicht nur für die von der EZB veröffentlichte Projektion, sondern auch für die Prognosen anderer Institutionen und für Umfragen, zum Beispiel dem Survey of Professional Forecasters (SPF) (siehe Schaubild 4.2). 15 Ähnliches galt für die Inflationsprognosen anderer Länder. 16

Eine wichtige Ursache für die Prognosefehler war die Nichtberücksichtigung von Erdgaspreisen in vielen Prognosemodellen. 17 Es fehlten so bis zum Ende des Jahres 2021 technische Annahmen für Erdgaspreise sowie Großhandelspreise für Strom in der Prognoseinfrastruktur des Eurosystems. Angesichts des erheblichen Erdgaspreisanstiegs und seiner Rolle bei der Bestimmung der Großhandelspreise für Strom wurde schließlich im Jahr 2022 der sogenannte „Annahmenkranz“ um Erdgas- und Strompreise erweitert. Zudem wurden zunehmend Prognosemodelle verwendet, die Erdgaspreise explizit berücksichtigten. 

Neu war auch die vorübergehende Störung ganzer Lieferketten sowie der temporäre, erzwungene Nachfrageausfallinfolge der Lockdowns zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Die Prognosewerkzeuge konnten dies auf Basis historischer Muster kaum erfassen und unterschätzten deshalb zunächst die inflationären Auswirkungen des Zusammentreffens der globalen Lieferkettenstörungen und des Nachfrageüberhangs nach bestimmten Waren. Ähnliches galt auch für die inflationären Folgen des Abbaus der aufgestauten Nachfrage nach kontaktnahen Dienstleistungen im Zuge der Lockerung der Pandemiemaßnahmen. 

Schließlich dürften die Prognosen zu Beginn der Hochinflationsphase noch durch die Erfahrungen der Niedriginflationsphase geprägt gewesen sein. Im Zeitraum von 2012 bis 2020 wurde der Anstieg der Kernrate (ohne Energie und Nahrungsmittel) nahezu durchgehend überschätzt. Dies verkehrte sich in der Hochinflationsphase zunächst in eine permanente Unterschätzung und wich erst nach einiger Zeit einer vergleichsweise akkuraten Prognose. 

Inflationsprognosen im Euroraum
Inflationsprognosen im Euroraum

Während der Hochinflationsphase wirkten sich Schocks auch deshalb stärker und schneller auf die HVPI-Rate aus, weil die Anbieter ihre Preise häufiger anpassten. Nicht nur die Schocks waren in der jüngsten Hochinflationsphase ungewöhnlich stark und vielfältig, auch ihre Weitergabe war deutlich kräftiger als in einem Umfeld mit niedrigeren Inflationsraten. Dies war auch dem veränderten Preissetzungsverhalten der Unternehmen geschuldet. Bis zum Beginn der Corona-Krise wurden die Verbraucherpreise im Euroraum im Durchschnitt ungefähr alle acht Monate angepasst. 18 Diese Frequenz erhöhte sich im Zuge der Hochinflationsphase merklich und stieg bis Ende 2023 auf knapp sechs Monate. 19 Eine ähnliche Entwicklung war auch in Deutschland zu beobachten (vgl. Schaubild 4.3). 20 Preistreibende Faktoren wie die gestiegenen Inputkosten oder gestiegene Preissetzungsspielräume, zum Beispiel durch die höhere, weil aufgestaute, Nachfrage in bestimmten Dienstleistungsbereichen, schlugen sich also sehr viel schneller in den Verbraucherpreisen nieder als in einem Umfeld mit niedrigeren Inflationsraten. Entsprechend gibt es Hinweise darauf, dass die Phillips-Kurve, das heißt der positive Zusammenhang zwischen Inflation und realwirtschaftlicher Auslastung, in der Hochinflationsphase steiler geworden ist. 21

Während die Unternehmen ihre Preise schneller anpassten, änderte sich das Lohnsetzungsverhalten der Tarifpartner in der Hochinflationsphase nur geringfügig. So blieb zum Beispiel in Deutschland die durchschnittliche Gültigkeitsdauer der tariflichen Lohnverträge auch in der Hochinflationsphase weitgehend unverändert. Dies war ein wesentlicher Grund dafür, dass die (Teil-) Kompensation für die während der Hochinflationsphase erlittenen Reallohnverluste erst mit einer gewissen Verzögerung erfolgte. 22 Entsprechend trug die Kombination von reagibleren Preisen mit einer unverändert trägeren Lohnanpassung dazu bei, dass die Inflationsrate auch nach Abklingen der sektoralen Schocks und Normalisierung des Preissetzungsverhaltens noch einige Zeit relativ persistent auf hohem Niveau blieb. Eine Normalisierung der zuvor gestiegenen Margen half den verzögerten Lohnkostenanstieg etwas abzumildern. 

Preis- und Lohnsetzung während der Hochinflationsphase
Preis- und Lohnsetzung während der Hochinflationsphase

Die längerfristigen Inflationserwartungen blieben während der Hochinflationsphase nahe bei 2 %, das Risiko einer Entankerung der Inflationserwartungen nach oben erhöhte sich aber zeitweise deutlich. Zwar stiegen die kurzfristigen Inflationserwartungen während der Hochinflationsphase vorübergehend merklich an. Die längerfristigen Inflationserwartungen blieben jedoch vom Niveau her verankert. Allerdings stieg das Risiko einer Entankerung ab Mitte 2022 deutlich an (vgl. dazu den Exkurs Messgrößen für das Risiko einer Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen aus Expertenumfragen). 23 Die im Laufe des Jahres 2022 einsetzende starke geldpolitische Reaktion dürfte dazu beigetragen haben, das Risiko einer Entankerung einzuhegen. Sie stärkte dadurch zudem die Glaubwürdigkeit des Inflationszieles und trug dazu bei, etwaigen Lohn-Preis-Spiralen vorzubeugen.

Exkurs

Messgrößen für das Risiko einer Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen aus Expertenumfragen

Die Verankerung der langfristigen Inflationserwartungen ist ein wichtiger Gradmesser für die Glaubwürdigkeit des Inflationszieles. Die vom Privatsektor erwartete Inflationsrate wirkt sich auf die Investitionen von Unternehmen und Haushalten sowie auf die Preis- und Lohnsetzung aus. Inflationserwartungen besitzen folglich eine hohe Bedeutung für die Geldpolitik. Insbesondere langfristige Inflationserwartungen sind ein wichtiger Gradmesser für das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit einer Zentralbank, das Inflationsziel zu erreichen. Die Verankerung der Inflationserwartungen wird üblicherweise anhand einer Reihe von Kriterien gemessen. 1 Fest verankerte langfristige Erwartungen sollten demnach nicht nur im Niveau nahe am Inflationsziel liegen, sondern auch widerspiegeln, dass die privaten Akteure lediglich geringe Risiken für ein Abweichen der Inflation vom Ziel sehen. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist aus Sicht des Eurosystems, dass die längerfristigen Inflationserwartungen ein möglichst ausgeglichenes Risikoprofil aufweisen sollten. 

Eine wichtige Quelle für die Inflationserwartungen des Privatsektors ist der SPF der EZB. Der SPF ist eine vierteljährlich durchgeführte Umfrage unter professionellen Prognostikern. Die Umfrageteilnehmer werden über ihre Erwartungen bezüglich der Inflationsrate, des realen BIP-Wachstums und der Arbeitslosenquote im Euroraum befragt – jeweils für verschiedene Erwartungshorizonte, vom aktuellen Kalenderjahr bis hin zur längerfristigen 2 Entwicklung in vier bis fünf Jahren. Die Besonderheit des SPF ist, dass die Teilnehmer nicht nur Punktprognosen abgeben, sondern auch Angaben dazu machen, wie hoch sie die Wahrscheinlichkeiten dafür einschätzen, dass die künftige Inflationsrate oder das BIP-Wachstum bestimmte vorgegebene Wertebereiche erreichen. Diese Angaben lassen sich anschließend zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung zusammenfügen, aus der sich sowohl die Unsicherheit der Umfrageteilnehmer als auch verschiedene Maße ihrer Risikoeinschätzung berechnen lassen. 

Während der Hochinflationsphase 2022 und 2023 stiegen die länger- und langfristigen Inflationserwartungen von Expertinnen und Experten zwar leicht an, lagen jedoch weiterhin nahe beim Inflationsziel. Das unten stehende Schaubild zeigt den Verlauf der über die einzelnen Umfrageteilnehmer gemittelten Punktprognosen für längerfristige Inflationserwartungen aus dem SPF (Erwartung in vier beziehungsweise fünf Jahren). Zum Vergleich sind auch langfristige Erwartungen (in sechs bis zehn Jahren) aus einer weiteren Expertenumfrage abgetragen, der Umfrage von Consensus Economics. Die Erwartungen der SPF-Teilnehmer lagen nur in zwei Umfragewellen im Jahr 2022 näher bei 2,2 % als bei 2,1 %, was als nicht mehr zielkonform angesehen werden könnte, 3 und die Erwartungen aus der Umfrage von Consensus Economics waren in diesem Sinne 2022 durchgängig zielkonform. Gemessen an ihrem Niveau blieben die Inflationserwartungen dementsprechend verankert. Nichtsdestotrotz kann sich aber die für die Verankerung ebenfalls wichtige Risikoeinschätzung der Expertinnen und Experten geändert haben.

Längerfristige Inflationserwartungen im Euroraum
Längerfristige Inflationserwartungen im Euroraum

Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen aus dem SPF ermöglichen, das Risikoprofil der aggregierten Inflationserwartungen zu berechnen. Es werden hierfür drei Risikomaße mit explizitem Bezug zum Inflationsziel verwendet: 4 Die Differenz von Randwahrscheinlichkeiten, 5 der Vergleich der Lage der Wahrscheinlichkeitsverteilung in Bezug zum Inflationsziel 6 und die Schiefe der Verteilung um das Inflationsziel. 7 Positive Werte dieser Risikomaße zeigen, dass die Umfrageteilnehmer eher das Risiko sehen, das Inflationsziel längerfristig zu überschreiten. Negative Werte deuten auf das Risiko des Unterschreitens hin. Das unten stehende Schaubild zeigt die aggregierten Wahrscheinlichkeitsverteilungen aus dem zweiten und dritten Quartal 2022, als die Inflationsrate ihren Höhepunkt erreichte. In der Umfragewelle des zweiten Quartals 2022 waren die Angaben der Umfrageteilnehmer zu den Wahrscheinlichkeiten noch annähernd symmetrisch um das Inflationsziel verteilt; dementsprechend lagen für das zweite Quartal 2022 alle drei Risikomaße nahe null. Dagegen verschob sich die Verteilung im dritten Quartal 2022 erkennbar nach rechts, mit der Folge, dass die Risikomaße für das dritte Quartal positive Werte aufwiesen.

Aggregierte Wahrscheinlichkeitsverteilung der längerfristigen Inflationserwartungen (SPF) für den Horizont "in 4 bis 5 Jahren"
Aggregierte Wahrscheinlichkeitsverteilung der längerfristigen Inflationserwartungen (SPF) für den Horizont "in 4 bis 5 Jahren"

In der Hochinflationsphase sahen die befragten Expertinnen und Experten deutliche Aufwärtsrisiken für die Inflation auf längere Sicht, obwohl die Inflationserwartungen im Niveau gut verankert blieben. Die drei Risikomaße weisen für die zweite Jahreshälfte 2022 übereinstimmend und im historischen Vergleich deutlich auf ein Überwiegen von Aufwärtsrisiken hin (siehe Schaubild 4.6). Zwar blieben die Erwartungen gemäß ihrem Niveau verankert, das Risiko einer Entankerung nach oben stieg gemäß der Einschätzung der Expertinnen und Experten jedoch deutlich. Dies ergab sich nicht nur durch eine Verschiebung der Wahrscheinlichkeitsverteilung nach rechts (wie durch den positiven Wert für den Mittelwert der Verteilung relativ zum Inflationsziel angezeigt), sondern auch durch eine gestiegene Wahrscheinlichkeit für hohe Werte der erwarteten Inflation (wie durch die Schiefe zum Inflationsziel angezeigt). Im Jahr 2023 entspannte sich die Lage etwas, die Bewegung hin zu einer ausgeglichenen Risikobewertung setzte aber erst 2024 ein. Seitdem hat sich diese Einschätzung über alle Indikatoren hinweg normalisiert und zeigt aktuell nur noch geringe Aufwärtsrisiken an. Diese dürften auch von der zum Zeitpunkt der letzten Erhebung Anfang April 2025 vorherrschenden Unsicherheit hinsichtlich des makroökonomischen Umfelds verursacht worden sein.

Risikomaße für Erwartungen in 4-5 Jahren (SFP)
Risikomaße für Erwartungen in 4-5 Jahren (SFP)

Demografischer Wandel, Dekarbonisierung, geoökonomische Fragmentierung und Digitalisierung dürften den Inflationsprozess nachhaltig (weiter) verändern. Seit der im Jahr 2021 abgeschlossenen Strategierevision haben sich die strukturellen Rahmenbedingungen der Geldpolitik des Eurosystems merklich geändert. Geopolitische Spannungen haben zugenommen, es gibt eine Tendenz zur stärkeren Fragmentierung globaler Wertschöpfungsketten. Der Klimawandel schreitet voran und die Transformation hin zu einem klimaneutraleren Wirtschaften hat merklich an Fahrt gewonnen. Mit der generativen künstlichen Intelligenz hat man eine neue Stufe der Digitalisierung erreicht, selbst wenn das Ausmaß an Durchdringung der wirtschaftlichen Prozesse und die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Lediglich der demografische Wandel hat sich seit Abschluss der letzten Strategierevision kaum verändert: Wir leben weiterhin in einer alternden Gesellschaft; Unsicherheit besteht allerdings hinsichtlich der Bedeutung der Migration. 

Durch den strukturellen Wandel dürfte der Inflationsprozess in jedem Fall volatiler und schwerer vorhersehbar werden. Der Klimawandel dürfte zu mehr Extremwetterereignissen führen, ein Umbau der Wertschöpfungsketten zu mehr angebots-, aber auch nachfrageseitigen Störungen. Eine Klimapolitik, die auf Verteuerung von CO2-Emissionen abzielt, könnte einerseits die Inflationsrate erhöhen. Andererseits dürfte langfristig der verstärkte Einsatz der günstigeren erneuerbaren Energiequellen inflationsdämpfend wirken. Ein zunehmender Einsatz von künstlicher Intelligenz könnte die Produktivität erhöhen und damit dämpfend auf die Inflationsrate wirken. Er könnte allerdings mit einem verstärkten Energieverbrauch einhergehen und dadurch – für sich genommen – Energiepreise erhöhen. Es bestehen somit im Allgemeinen sehr große Unsicherheiten über die Wirkung der sich verändernden strukturellen Rahmenbedingungen auf die Angebots- und Nachfragekanäle, auch weil die Entwicklungen hochgradig interdependent und stark von Politikmaßnahmen abhängig sein können. 24

Inflationstrend: Veränderung seit der Strategierevision 2020/21
Inflationstrend: Veränderung seit der Strategierevision 2020/21

Der Einfluss dieser Entwicklungen auf den Inflationstrend insgesamt ist schwierig zu bestimmen; die Wirkung dürfte aber – anders als noch im Rahmen der Strategierevision 2020/2021 konstatiert – nicht nur disinflationär sein. Die Strategieüberprüfung 2020/2021 kam zu dem Ergebnis, dass strukturelle Faktoren überwiegend einen dämpfenden Effekt auf die Inflation hätten und daher der Inflationstrend gesunken sein könnte. Jüngere empirische Schätzungen für den Euroraum deuten jedoch darauf hin, dass der Inflationstrend möglicherweise Mitte 2021 nicht so niedrig war wie damals geschätzt und sich zuletzt erhöht haben könnte. 25 Dies gilt in ähnlicher Weise für Deutschland (siehe Schaubild 4.7). 26 Die Unsicherheit solcher Schätzungen ist zwar sehr groß, und empirische Schätzungen des unbeobachtbaren Trends unterliegen Revisionen. Trotzdem legen die Ergebnisse der Schätzungen nahe, dass der Einfluss der strukturellen Faktoren nicht (mehr) eindeutig preisdämpfend ist.

Der Einfluss struktureller Faktoren auf den natürlichen Zins ist ebenfalls unklar; der natürliche Zins könnte seit dem Ende der Niedriginflationsphase wieder gestiegen sein, dürfte aber weiterhin niedriger liegen als zu Beginn der 2000er Jahre. Der natürliche Zins (auch: Neutraler Zins, Gleichgewichtszins, R-Stern) ist konsistent mit einer stabilen Inflationsrate und einer Produktionslücke von null. Er kann dabei helfen, den Grad der geldpolitischen Ausrichtung zu bestimmen. Wie Schaubild 4.8 illustriert, sank er seit der globalen Finanzkrise im Euroraum zunächst kontinuierlich. Die wesentlichen Ursachen dafür lassen sich grob in zwei Gruppen aufteilen: Zum einen fiel das langfristige Wirtschaftswachstum (durch den Anstieg der Ersparnisse und eine geringere Produktivität), zum anderen stieg die Nachfrage nach sicheren Anlagen. Gemäß vieler empirischer Schätzungen 27 beschleunigte sich der Rückgang des natürlichen Zinses noch zu Beginn der Corona-Pandemie (siehe Schaubild 4.8). Seitdem ist der natürliche Zins wieder auf das Niveau von vor der Pandemie angestiegen, liegt aber immer noch deutlich unterhalb des Niveaus zu Beginn der 2000er Jahre. Die von der Bundesbank verwendeten Modellschätzungen und näherungsweisen Berechnungen 28 ergeben aktuell einen natürlichen Realzins zwischen – 0,25 % bis 0,7 % (oder in nominalen Werten zwischen 1,7 % und 2,6 %). Diese Schätzungen decken sich mit den Ergebnissen der EZB. 29

Schätzungen der Bundesbank zum realen neutralen Kurzfristzins
Schätzungen der Bundesbank zum realen neutralen Kurzfristzins

Schätzungen des natürlichen Zinses sind allerdings mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Erstens kann der natürliche Zins, wie jede unbeobachtete Variable, nur mit großer statistischer Unsicherheit geschätzt werden (siehe Schaubild 4.8). Zweitens herrscht unter Ökonominnen und Ökonomen keine Einigkeit darüber, wie der natürliche Zins gemessen werden sollte. Schließlich sind die Auswirkungen oben genannter struktureller Veränderungen auf den natürlichen Zins schwer vorhersehbar und quantifizierbar, genauso wie für die künftige Inflation. Die alternde Gesellschaft sowie ein schwächeres Bevölkerungswachstum dürften dabei den natürlichen Zins tendenziell senken, die Effekte der übrigen drei Treiber sind aber weniger eindeutig. 

Insgesamt dürften die Aufwärtsrisiken für den natürlichen Zins heute höher sein als während der Strategierevision 2020/2021. Neue Makrotrends wie künstliche Intelligenz oder geopolitische Spannungen üben erstmals seit dem Erreichen der effektiven Untergrenze einen Aufwärtsdruck auf den natürlichen Zins aus. 

4 Angebotsschocks, mittlere Frist und Verankerung von Inflationserwartungen

Die Strategieüberprüfung des Eurosystems bestätigt die mittelfristige Formulierung des Inflationszieles. Der EZBR ist weiterhin der Auffassung, dass Preisstabilität am besten über einen mittelfristigen Zeithorizont verfolgt wird. Flexibilität bei der Länge des Zeithorizonts, innerhalb dessen die Verbraucherpreisentwicklung in Einklang mit dem Inflationsziel gebracht werden soll, versetzt die Geldpolitik in die Lage, bestmöglich auf makroökonomische Schocks zu reagieren  in Abhängigkeit von deren Art, Stärke und Persistenz. 30 Sie trägt damit dem Umstand Rechnung, dass temporäre Abweichungen vom Inflationszielwert unvermeidlich sind. Da geldpolitische Maßnahmen nur mit Verzögerung auf die Preise wirken und ihre Wirkung zudem mit Unsicherheit behaftet ist, ist es nicht realistisch, kurzfristige Inflationsschwankungen beseitigen zu wollen. 

Die mittelfristige Zielorientierung ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen ein „Hindurchschauen“ durch die Wirkung temporärer Angebotsschocks auf die Inflation. 31 Der Vorteil einer mittelfristigen Zielformulierung zeigt sich vor allem bei angebotsseitigen Schocks, die Inflation und gesamtwirtschaftliche Entwicklung in gegensätzliche Richtungen lenken, wie zum Beispiel im Anschluss an einen Energiepreisschock. Im Gegensatz zu nachfrageseitigen Schocks, deren Wirkungen auf Inflation und gesamtwirtschaftliche Entwicklung tendenziell gleichgerichtet sind, stellen angebotsseitige Schocks die Geldpolitik vor einen Zielkonflikt. Soll beispielsweise bei einem negativen Angebotsschock, der die Wirtschaft schwächt und gleichzeitig inflationär wirkt, die Inflationsrate gesenkt werden, erfordert dies die Anhebung der Zinsen. Dies bremst jedoch die bereits gedämpfte gesamtwirtschaftliche Entwicklung zusätzlich. Sind die Angebotsschocks temporärer Natur, erlaubt die mittelfristige Zielorientierung der Geldpolitik unter bestimmten Voraussetzungen ein starkes Gegensteuern zu vermeiden. 

Ausschlaggebend dafür, ob ein solches „Hindurchschauen“ sinnvoll ist, sind zunächst die Stärke und Persistenz des jeweiligen Schocks. Ein „Hindurchschauen“ ist nur dann sinnvoll, wenn der Schock lediglich temporär wirkt und dessen Effekte weder „zu groß“ noch „zu persistent“ (oder dauerhaft) ausfallen. Erweist sich der Schock und seine Wirkung auf die Inflation demgegenüber als besonders „groß“ oder „hartnäckig“, muss eine geldpolitische Reaktion sicherstellen, dass sich die erhöhte Inflation nicht dauerhaft oberhalb des Politikziels festsetzt (zum Beispiel über den Lohn-Preis-Zusammenhang). 

Zentrale Voraussetzung für eine Politik des „Hindurchschauens“ ist die feste Verankerung der langfristigen Inflationserwartungen. Weicht die Inflation besonders stark oder länger vom Zielwert ab, besteht die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen. Eine solche Entankerung würde Zweifel an der Fähigkeit der Geldpolitik, ihr Ziel zu erreichen, widerspiegeln. Diese Gefahr schränkt die Möglichkeit eines „Hindurchschauens“ ein: Sie erfordert ein hinreichend starkes Eingreifen der Geldpolitik, um eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum Zielwert sicherzustellen (vgl. Exkurs „Optimale Geldpolitik bei möglicher Entankerung der Inflationserwartungen“). 32 Diese Einschränkung bei der Operationalisierung der mittleren Frist ist seit jeher ein wichtiges Element der Geldpolitik im Eurosystem und wurde bereits bei der vergangenen Strategieüberprüfung betont. 33  

Exkurs

Optimale Geldpolitik bei möglicher Entankerung der Inflationserwartungen

Im Zuge des außergewöhnlich starken Anstiegs der Inflationsrate im Euroraum wuchs die Sorge vor einer möglichen Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen. Wie im Exkurs Messgrößen für das Risiko einer Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen aus Expertenumfragen dokumentiert wurde, lagen die langfristigen Inflationserwartungen während der Hochinflationsphase lediglich etwas über dem Inflationsziel von 2 %. Auch wenn die Inflationserwartungen entsprechend verankert blieben, ließ sich spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ein gestiegenes Risiko einer Entankerung messen. 1

Ein Abweichen der langfristigen Inflationserwartungen vom Zielwert ist geldpolitisch problematisch. Inflationserwartungen haben über verschiedene Kanäle Einfluss auf die tatsächliche Inflationsentwicklung. Zum einen könnten Haushalte in Erwartung höherer Inflation geplante Ausgaben zeitlich vorziehen, was die gesamtwirtschaftliche Konsumnachfrage ankurbeln und den Preisdruck erhöhen würde. Zum anderen könnten Gewerkschaften und andere Wirtschaftsteilnehmer höhere Löhne fordern, um den erwarteten Kaufkraftverlust zu kompensieren. Dies würde für sich genommen die Kosten für Unternehmen erhöhen. Auch Unternehmen könnten unmittelbar einen Anreiz haben, ihre Preise zu erhöhen, da ihre Preissetzung aufgrund nominaler Rigiditäten in vorausschauender Weise erfolgt, das heißt abhängig von der erwarteten Preisentwicklung. 2 All diese Kanäle können also Unternehmen direkt oder indirekt dazu bewegen, ihre Preise infolge gestiegener Inflationserwartungen zu erhöhen und damit den Inflationsdruck anfachen. Wird seitens der Haushalte und Unternehmen erwartet, dass die Inflation nicht nur temporär, sondern sogar langfristig höher ausfällt, kann sich die Wirkung der einzelnen Kanäle verstärken. Dies erhöht wiederum die Gefahr einer aufwärtsgerichteten Spirale zwischen tatsächlicher und erwarteter Inflation.

Makroökonomische Modelle, die für die geldpolitische Analyse verwendet werden, berücksichtigen gemeinhin nicht die Möglichkeit entankerter langfristiger Inflationserwartungen. Eine wesentliche Annahme, die von den meisten makroökonomischen Modellen getroffen wird, ist die feste Verankerung langfristiger Inflationserwartungen am Zielwert der Zentralbank. Dies ist eine plausible Annahme für Zeiten, in denen sich die Inflationsrate stabil auf niedrigem Niveau bewegt und das Vertrauen in die Geldpolitik groß ist. Die Erfahrung außergewöhnlich hoher und hartnäckiger Inflation in den vergangenen Jahren hat jedoch selbst Expertinnen und Experten dazu bewogen, die geldpolitische Zielerfüllung vereinzelt anzuzweifeln (vgl. den Exkurs Messgrößen für das Risiko einer Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen aus Expertenumfragen). In einem solchen Umfeld erscheint die Annahme fest verankerter Inflationserwartungen weniger geeignet und könnte die modellbasierten geldpolitischen Empfehlungen verzerren.

Die Möglichkeit einer Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen lässt sich in diesen Modellen durch die Annahme abbilden, dass ein Teil der Haushalte und Unternehmen nicht von einer dauerhaften Zielerreichung durch die Zentralbank ausgeht. In diesem Fall passen manche Wirtschaftsakteure ihre langfristigen Inflationserwartungen an, wenn die beobachtete Inflation von der prognostizierten Inflation abweicht. Je höher der Prognosefehler ausfällt, desto stärker werden die langfristigen Inflationserwartungen beeinflusst. Damit induzieren die Prognosefehler einen Lernprozess hinsichtlich der langfristigen Inflationsrate und bilden ein Wechselspiel zwischen höherer realisierter und langfristig erwarteter Inflation im Modell ab. Dieses gilt es bei der Ableitung geldpolitischer Empfehlungen zu berücksichtigen.

Können sich die langfristigen Inflationserwartungen vom Inflationsziel entfernen, fällt die optimale Zinsreaktion stärker aus als im Fall fest verankerter Inflationserwartungen. Das Schaubild 4.9 zeigt die optimale geldpolitische Reaktion auf einen persistenten sogenannten Cost-Push-Schock, basierend auf einem stilisierten Modell. 3 Ein solcher angebotsseitiger Schock steigert die Inflation und senkt die Wirtschaftsleistung. Er bildet damit die Erfahrungen der vergangenen Jahre in stilisierter Weise ab. Der Schock impliziert mithin einen Zielkonflikt zwischen der Stabilisierung der Inflation und der realen Aktivität: Um die Inflation zu senken, ist es erforderlich, die bereits gedämpfte realwirtschaftliche Aktivität durch höhere Zinsen noch weiter zu bremsen. Die optimale Erhöhung des Politikzinses fällt hierbei im Fall fest verankerter Inflationserwartungen (blaue Linien) weniger stark aus als im Fall einer möglichen Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen (schwarze Linien). Dieser Unterschied ergibt sich aus zwei Gründen: Zum einen muss die Zentralbank die Inflationsrate stärker dämpfen, wenn die langfristigen Inflationserwartungen von der beobachteten Inflationsrate abhängen. Ansonsten würden die langfristigen Inflationserwartungen aufgrund des Schocks stärker ansteigen und damit den erwarteten langfristigen Realzins senken. Dies würde für sich genommen sogar einen zusätzlichen expansiven Effekt auf die Wirtschaft entfalten und damit die Stabilisierung der Inflationsrate erschweren. Zum anderen verstärken jene Unternehmen, die ihre langfristigen Inflationserwartungen erst über die Zeit infolge tatsächlich gesunkener Inflationsraten wieder reduzieren, die Persistenz der Inflationsentwicklung. Dem inflationären Einfluss gestiegener Inflationserwartungen kann die Geldpolitik hierbei nur angemessen entgegenwirken, indem sie mittels ausreichend starker Zinserhöhungen die tatsächliche, beobachtete Inflation senkt. 4 Eine Kommunikation über zukünftige restriktive Geldpolitik – oder sogar nur ein „Hindurchschauen“ seitens der Zentralbank – allein genügt nicht, um die Zweifel einiger Haushalte und Unternehmen auszuräumen.

Optimale Geldpolitik bei einem Cost-Push-Schock mit und ohne Entankerungsgefahr
Optimale Geldpolitik bei einem Cost-Push-Schock mit und ohne Entankerungsgefahr

 

Die Verankerung der Inflationserwartungen spielte in den letzten Jahren eine Schlüsselrolle für die Geldpolitik in Euroraum. So stieg in der Hochinflationsphase zunehmend die Sorge vor einer möglichen Entankerung der Inflationserwartungen nach oben. (vgl. Exkurs Messgrößen für das Risiko einer Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen aus Expertenumfragen). Angesichts dieser Sorge straffte das Eurosystem seinen geldpolitischen Kurs kräftig. Der anschließend beobachtete Rückgang der Inflation und der Inflationserwartungen zeigen, dass sich die in der Strategie des Eurosystems angelegten Grundsätze hinsichtlich der Grenzen eines „Hindurchschauens“ bewährt haben.

Auch Nichtlinearitäten bei der Inflationsdynamik schränken die Möglichkeit eines „Hindurchschauens“ ein. In der vergangenen Hochinflationsphase gab es, wie bereits oben erwähnt, Anzeichen einer nichtlinearen Dynamik der Inflationsrate: In einem Umfeld erhöhter Inflation passten die Unternehmen ihre Preise stärker und schneller an als zuvor. Diese empirische Beobachtung lässt vermuten, dass die Phillips-Kurve steiler geworden und somit grundsätzlich nichtlinear ist (siehe Kapitel 3). 34 Angebotsseitige Schocks wirken also stärker auf die gesamtwirtschaftliche Teuerung, wenn sich diese bereits auf erhöhtem Niveau befindet. Eine solche nichtlineare Phillips-Kurve beschränkt ‒ ähnlich wie die Gefahr einer Entankerung ‒ die Möglichkeiten eines „Hindurchschauens“ und rechtfertigt ein frühes und energisches Eingreifen bei Angebotsschocks. So kommt die Geldpolitik einer Verstetigung der Inflationsrate über dem Zielwert zuvor. 35 36

5 Kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen

Unter dem Eindruck des Niedriginflationsumfelds beschloss der EZBR in der Strategieüberprüfung 2020/2021, nahe der effektiven Zinsuntergrenze besonders kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen zu ergreifen.Dies impliziert eine asymmetrische Reaktionsfunktion, 37 der zufolge die Geldpolitik nahe der Zinsuntergrenze stärker auf negative als auf positive Abweichungen vom Inflationsziel reagiert. 38 Die vom EZBR gewählte Formulierung „kraftvoll oder lang anhaltend“ legt dabei eine zeitliche Reihenfolge nahe: Eine zunächst besonders kraftvolle Reaktion – hierzu zählt das Absenken der geldpolitischen Zinsen gegebenenfalls in den negativen Bereich – soll eine möglichst rasche Belebung der wirtschaftlichen Aktivität unterstützen und dazu beitragen, dass sich niedrige Inflationsraten nach disinflationären Schocks nicht verfestigen. 39 Eine anschließend lang anhaltende Reaktion, beispielsweise flankiert durch eine geeignete vorausschauende Kommunikation (Forward Guidance), wird dann notwendig, wenn weitere Zinssenkungen aufgrund einer einsetzenden bindenden Zinsuntergrenze nicht mehr möglich sind.

Wahrscheinlichkeit einer bindenden Zinsuntergrenze und durchschnittliche Inflationsrate
Wahrscheinlichkeit einer bindenden Zinsuntergrenze und durchschnittliche Inflationsrate

Die Zinsuntergrenze bleibt weiterhin eine zentrale geldpolitische Restriktion. Die Wahrscheinlichkeit, mit der die effektive Zinsuntergrenze erreicht wird, hat sich nach Einschätzung der Expertinnen und Experten im Eurosystem gegenüber den Schätzungen aus der Strategieüberprüfung von 2020/2021 kaum verändert (siehe Schaubild 4.10, links). Hauptursache hierfür sind die weiterhin niedrigen Schätzwerte für den natürlichen oder gleichgewichtigen Zins (siehe Kapitel 3). 40

Vor diesem Hintergrund bleibt eine kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Reaktion nahe der Zinsuntergrenze grundsätzlich sinnvoll. Angesichts des anhaltend niedrigen Gleichgewichtszinses und der damit verbundenen Herausforderungen durch die Zinsuntergrenze bestünde die Gefahr einer negativen Abweichung der durchschnittlichen Inflationsrate vom Inflationsziel fort (siehe Schaubild 4.10, rechts). Entsprechend sollte die Geldpolitik nahe der Zinsuntergrenze bei disinflationären Schocks besonders kraftvoll oder lang anhaltend reagieren, um das Inflationsziel von 2 % zu erreichen.

Die Umsetzung von „kraftvoll oder lang anhaltend“ muss jedoch künftig robuster gegenüber abrupten Veränderungen des Inflationsumfelds ausgestaltet werden. 41  Der EZBR operationalisierte „kraftvoll oder lang anhaltend“ am 22. Juli 2021 mittels einer zustandsabhängigen Zins-Forward-Guidance. Diese umfasste drei Kriterien, von denen zwei auf Projektionen und eines auf einer realisierten Größe basierten. 42 Insbesondere die projektionsbezogenen Kriterien erwiesen sich rückblickend als nicht hinreichend robust angesichts rasch wechselnder gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen – die Projektionen wiesen zeitweise erhebliche Prognosefehler auf (siehe Kapitel 3). Die realisierte Größe empfahl zwar für sich genommen einen früheren Ausstieg. Da jedoch alle drei Kriterien durch eine „und“-Klausel miteinander verknüpft waren, mussten sie gemeinsam erfüllt sein. Dies sollte Robustheit gegenüber einem zu frühen Zinsanstieg bei nur vorübergehend höheren Inflationsraten gewährleisten. Die Kriterien wurden aber erst im Juni 2022 gemeinsam erfüllt – obwohl die tatsächliche Inflationsrate im Euroraum zu diesem Zeitpunkt bereits bei rund 9 % lag. 43 Rückblickend und basierend auf Analysen im Rahmen der jüngsten Strategieüberprüfung, wäre ein früherer Beginn des Straffungszyklus angemessen gewesen. 44 Entsprechend müssen angesichts dieser Erfahrungen künftige Maßnahmen, die „kraftvoll oder lang anhaltend“ konkret umsetzen, sowohl flexibel gegenüber sich rasch einstellenden Änderungen als auch robust gegenüber Prognosefehlern ausgestaltet werden.

Angesichts der Erfahrungen in der Hochinflationsphase ist es auch bei einem deutlichen Überschießen des Inflationszieles sinnvoll, besonders kraftvoll oder lang anhaltend zu reagieren. Der EZBR begegnete der starken Überschreitung des Inflationszieles ab Mitte 2022 mit rasch aufeinander folgenden und phasenweise sehr starken Zinserhöhungen und einer anschließend lang anhaltenden geldpolitischen Straffung. Diese war entscheidend, um das Risiko einer Entankerung der Inflationserwartungen einzudämmen (siehe Kapitel 3). Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass sowohl eine besonders kraftvolle als auch eine lang anhaltende restriktive geldpolitische Reaktion für das Erreichen des Inflationszieles notwendig waren. 45 Die Wahl zwischen beiden Ansätzen hängt vom jeweiligen Abschnitt des Straffungszyklus und den Risiken für die Verankerung der Inflationserwartungen ab. Zu Beginn des Inflationsschubs war eine schnelle und kraftvolle Anhebung der Leitzinsen geboten. Später verlagerte sich der Fokus auf die Dauer der restriktiven Geldpolitik, um unerwünschte Nebenwirkungen wie Wachstums- und Beschäftigungsverluste oder Finanzstabilitätsrisiken zu begrenzen.

Zusammenfassend sollen kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen bei Gefahren für die Verankerung des Inflationszieles künftig in beide Richtungen eingesetzt werden. Der EZBR leitet aus den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit folgende Lehren für die Ausgestaltung der geldpolitischen Reaktion auf größere Abweichungen vom Inflationsziel ab: Kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen werden nahe der Zinsuntergrenze beibehalten, um einer Entankerung der Inflationserwartungen nach unten vorzubeugen. Die Umsetzung sollte jedoch mehr Flexibilität ermöglichen, um auf veränderte Rahmenbedingungen rasch reagieren zu können. Schließlich sind kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen auch bei hohen Inflationsraten geeignet, um die Risiken einer Entankerung der Inflationserwartungen nach oben rechtzeitig einzudämmen.

6 Wie berücksichtigt das Eurosystem Risiken und Unsicherheit?

Der makroökonomische Ausblick, an dem das Eurosystem seine Geldpolitik ausrichtet, ist grundsätzlich mit Unsicherheit behaftet. Jüngste Ereignisse wie die Corona-Pandemie, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sowie eine zunehmend erratische US-Handelspolitik verdeutlichen, dass das makroökonomische Umfeld gegenwärtig von erhöhter Volatilität geprägt ist. Um in diesem Umfeld die voraussichtliche Entwicklung der Inflation im Euroraum bestmöglich abzuschätzen, musste das Eurosystem fortlaufend seinen analytischen Instrumentenkasten weiterentwickeln (siehe Exkurs „Analyse- und Prognosetools des Eurosystems“). In diesem volatilen Umfeld unterliegen bereits die den Prognosen (genauer: Projektionen) zugrunde liegenden Annahmen erheblichen Unsicherheiten. Hinzu kommt, dass die Übertragung dieser Annahmen in die Prognosemodelle zusätzlichen Unsicherheiten ausgesetzt ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn neuartige Entwicklungen auftreten und Prognosemodelle, die auf historischen makroökonomischen Zusammenhängen basieren, diese bestenfalls approximativ abbilden. Prognosen sind damit nicht nur mit beträchtlicher, sondern möglichweise zunehmender Unsicherheit behaftet.

Exkurs

Analyse- und Prognosetools des Eurosystems

Das veränderte Inflationsumfeld bedarf flexiblerer Analyse- und Prognosetools. Die zurückliegende Hochinflationsphase stellte das Eurosystem mit Blick auf seine bestehenden Analyse- und Prognosetools vor eine große Herausforderung. Zum einen hielten mit der Pandemie und durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine völlig neue wirtschaftliche Phänomene Einzug, wie Lockdowns, die massiven Lieferkettenstörungen oder der exorbitante Anstieg der Erdgaspreise. Dies erforderte die Entwicklung und Analyse neuer Indikatoren, beispielsweise zum Mobilitätsverhalten, zu Lieferengpässen oder zu den Treibern der Gaspreise. Zum anderen spielten in der Hochinflationsphase Nichtlinearitäten bei der Transmission der Schocks eine nennenswerte Rolle, wie etwa die ungewöhnlich starke Weitergabe gestiegener Kosten an die Verbraucherpreise. Letztlich wurden Störungen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten durch die einzelnen Wirtschaftssektoren weitergegeben, und es kam zwischenzeitlich zu starken Verschiebungen der relativen Preise. 

Das Modellierungswerkzeug des Eurosystems wurde weiterentwickelt, um Nichtlinearitäten und sektorale Heterogenitäten sowie internationale Verflechtungen besser abbilden zu können. Dabei kamen zunehmend granulare Daten und nichtlineare Modellierungsansätze unter Verwendung von künstlicher Intelligenz zum Einsatz. 1 Ein wesentlicher Fortschritt bestand zudem in der Integration sektoraler Informationen in strukturelle Modelle. Neben der Erweiterung empirischer Modelle um sektorale Aspekte haben die EZB sowie mehrere nationale Zentralbanken, darunter die Bundesbank, 2 dynamische stochastische allgemeine Gleichgewichtsmodelle (DSGE-Modelle) mit Input-Output-Verknüpfungen 3 und ausgeprägter sektoraler sowie regionaler Heterogenität entwickelt. Zwar kommen diese Modelle bislang nicht im Rahmen der regelmäßigen Prognoseerstellung zum Einsatz, sie dienen jedoch Analysezwecken, etwa um die Übertragung von Energiepreisschocks auf die Inflation besser zu verstehen. So verdeutlicht eine Analyse der Banco de España, dass die Nichtberücksichtigung von Produktionsnetzwerken zu einer erheblichen Unterschätzung der Inflationsauswirkungen eines importierten Energiepreisschocks führt. 4 Darüber hinaus hilft die heterogene Struktur der Produktionsnetzwerke, länderspezifische Unterschiede in den Inflationsdynamiken nachzuvollziehen. 5

Trotz der erzielten Fortschritte bei der Weiterentwicklung des analytischen Instrumentariums des Eurosystems besteht weiterhin Anpassungsbedarf. So könnte die Infrastruktur zur Erstellung der gesamtwirtschaftlichen Prognosen im Eurosystem noch flexibler gestaltet werden, um schneller auf Schocks reagieren zu können. Des Weiteren hat die Modellierung struktureller Trends, die sowohl den Euroraum als auch die Weltwirtschaft betreffen, an Bedeutung gewonnen. Die Wechselwirkungen zwischen strukturellen Treibern und zyklischen Schwankungen dürften in der Zukunft angesichts des sich rasch wandelnden geoökonomischen Umfelds eine verstärkte analytische Aufmerksamkeit erfordern.

Die Wirkung der Geldpolitik auf Inflation und Wirtschaftsleistung ist ebenfalls von Unsicherheit geprägt. Das Eurosystem schätzt die Wirkung seiner geldpolitischen Instrumente wie den Leitzins oder die Anleihekäufe auf makroökonomische Größen wie Inflationsrate und Wirtschaftsleistung nach neuestem wissenschaftlichen Kenntnisstand ab. Diese Wirkungszusammenhänge sind jedoch nicht notwendigerweise konstant über die Zeit. So zeigt beispielsweise die empirische Evidenz, dass die Leitzinssteigerungen in den jüngst durchlebten Jahren hoher Inflationsraten im Euroraum stärker auf die Inflationsraten durchschlugen als historische Zusammenhänge dies vermuten ließen. 46

Eine systematische Berücksichtigung von Unsicherheit wird dadurch erschwert, dass die Wissenschaft keine einheitlichen Handlungsempfehlungen für Geldpolitik unter Unsicherheit abgeleitet hat. In einer klassischen Referenz kommt Brainard (1967) zu dem Ergebnis, dass die Geldpolitik ihre Instrumente mit größerer Vorsicht nutzen sollte, wenn Unsicherheit über deren Wirkung besteht. Dieses „Prinzip des Konservatismus“ prägt zwar nach wie vor die Diskussion über Geldpolitik unter Unsicherheit, doch es ist im wissenschaftlichen Diskurs nicht unangefochten geblieben. So zeigen neuere Studien, dass die Geldpolitik aggressiver reagieren sollte, wenn Unsicherheit über die Dauer eines vorherrschenden Inflationsanstiegs herrscht, darüber hinaus die Häufigkeit der Preisanpassungen seitens der Firmen ungewiss ist und/oder wenn Wirtschaftsakteure die Glaubwürdigkeit des Inflationszieles infrage stellen. 47  

Die optimale Reaktion der Geldpolitik auf Unsicherheit hängt vom spezifischen Kontext ab, sodass der EZBR die angemessene Reaktion fallweise bestimmen muss. Insgesamt existiert mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die eine große Anzahl unterschiedlicher Möglichkeiten abdeckt, wie Unsicherheit die Geldpolitik beeinflussen kann. Es zeigt sich dabei, dass die optimale Reaktion der Geldpolitik auf Unsicherheit vom spezifischen Kontext abhängt und einheitliche Handlungsempfehlungen kaum zu bestimmen sind. Deshalb ist es nicht sinnvoll, die geldpolitische Reaktionsfunktion des Eurosystems aufgrund höherer Unsicherheit „mechanisch“ anzupassen, also beispielsweise hin zu einem stets aggressiveren oder stets weniger aggressiven Entgegensteuern bei Abweichungen der Inflationsrate von ihrem Ziel. Vielmehr muss der EZBR fallspezifisch analysieren, welche Einflussfaktoren zu einer erhöhten Unsicherheit beitragen, um zu bestimmen, wie mit ihr geldpolitisch umgegangen werden sollte.

Das Eurosystem hat auf die hohe Unsicherheit der vergangenen Jahre mit einem kontinuierlichen Ausbau der Risikoanalysen als Input für den geldpolitischen Entscheidungsprozess reagiert. Dies schlägt sich in der Strategieerklärung 2025 in der expliziten Erwähnung von Szenario- und Sensitivitätsanalysen nieder. Angesichts eines künftig von erhöhter Volatilität und Unsicherheit geprägten makroökonomischen Umfelds erstellen die Expertinnen und Experten des Eurosystems neben der sogenannten Prognosebasislinie, deren Eintreffen als das wahrscheinlichste Szenario gilt, zunehmend auch alternative Szenarien. 48 Szenarioanalysen untersuchen die makroökonomischen Auswirkungen hypothetischer Narrative, die von den Annahmen der Prognosebasislinie abweichen. Die entwickelten alternativen Narrative spiegeln dabei die maßgeblichen Unsicherheitsquellen wider, wie etwa alternative politische Entscheidungen, das Eintreten spezifischer hypothetischer Risiken und/oder abweichende Annahmen hinsichtlich der Art und Intensität der makroökonomischen Transmission von Schocks. So erwiesen sich in der jüngsten Vergangenheit alternative Szenarien zum Verlauf der Corona-Pandemie, zu den Auswirkungen des Ukrainekriegs und zu einer möglichen Eskalation des Handelskonfliktes zwischen den USA und der EU als besonders nützlich, um die bedingte Aussagekraft und damit die Unsicherheit der Prognosebasislinie zu veranschaulichen. Sensitivitätsanalysen untersuchen wiederum die makroökonomischen Auswirkungen einzelner alternativer Pfade für die technischen Annahmen, wie etwa der Entwicklung der Ölpreise oder der Wechselkurse. Sie ergänzen somit die Erstellung und Auswertung alternativer Szenarien.

Angesichts der Vielzahl potenzieller alternativer Szenarien ist ein strukturierter Ansatz zur Auswahl von Szenarien unerlässlich. Dabei ist es sinnvoll, sich auf einige wenige „zentrale“ Szenarien zu fokussieren. Dies vereinfacht den anschließenden Entscheidungsprozess und sorgt dafür, dass die wesentlichen Risiken und damit verbundene Narrative einzelner Szenarien voneinander trennbar bleiben. Die Auswahl orientiert sich dabei an der Relevanz für die geldpolitische Entscheidungsfindung. Einerseits sollte ein begründeter Verdacht bestehen, dass sich die für die Geldpolitik relevanten Zielgrößen, wie erwartete Inflationsrate und wirtschaftliche Entwicklung, in einem alternativen Szenario merklich von ihrem Verlauf in der Prognosebasislinie unterscheiden. Andererseits sollten die betrachteten Szenarien hinreichend plausibel erscheinen, das heißt, ihr Eintreten sollte als hinreichend wahrscheinlich und relevant genug erachtet werden, sodass der EZBR sie bei seinen geldpolitischen Überlegungen und seiner Entscheidung berücksichtigt. Dabei ist es jedoch weder unbedingt notwendig noch möglich, die Eintrittswahrscheinlichkeit solch eines Szenarios exakt zu beziffern. Denn die Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Szenarien ist zwangsläufig mit subjektiven Einschätzungen verbunden. Um die Auswahl der relevanten Szenarien zu begleiten und einen Konsens darüber im Eurosystem sicherzustellen, sollen in Zukunft frühzeitig das Monetary Policy Committee des Eurosystems (in den Projektionsrunden des gesamten Eurosystems) oder das Forecast Steering Committee der EZB (in den Projektionsrunden der EZB) in diesen Prozess eingebunden werden. Gerade bei neuartigen oder besonders gravierenden Risiken empfiehlt sich ein kooperativer Ansatz, der in die Szenarioanalyse die technische Expertise des gesamten Eurosystems einbezieht.

Die Szenarien und Sensitivitätsanalysen fließen wiederum in die Bestimmung optimaler geldpolitischer Entscheidungen ein. Die Expertinnen und Experten des Eurosystems haben ihre Risikoanalysen in den letzten Jahren beständig ausgebaut. So werden regelmäßig modellbasierte Analysen zu den voraussichtlichen Auswirkungen verschiedener geldpolitischer Optionen angefertigt. Neben exemplarisch gewählten, teils illustrativen Politikoptionen 49 werden auch optimale Politikpfade für die Prognosebasislinie und für die Risikoszenarien berechnet. Die Gesamtheit der geldpolitischen Optionen wird dann im Rahmen eines quantitativen Risikomanagements ausgewertet. 

Neben diesen analytischen Fortschritten hat das Eurosystem auch seine externe Kommunikation an das volatile, unsichere Umfeld angepasst. Zum einen erklärte der EZBR im Juni 2022, dass er einen datenabhängigen Ansatz verfolge und von Sitzung zu Sitzung seine Entscheidung anpasse. 50 Durch die Betonung des datenabhängigen Ansatzes verdeutlichte der EZBR, dass er es für sinnvoll hält, in Zeiten hoher Unsicherheit zustandsabhängig auf Veränderungen des Umfelds zu reagieren. Zum anderen stellte der EZBR (erstmals im März 2023) klar, dass er seine geldpolitischen Optionen insbesondere an folgenden drei Kriterien ausrichtet:

  1. Der Ausblick der Verbraucherpreisinflation (sowohl unter Annahme der Basisprognose als auch in Risikoszenarien);

  2. die zugrunde liegende Inflation (beispielsweise die Kerninflationsrate, die um sehr volatile Komponenten bereinigt ist) und 

  3. die (möglicherweise über die Zeit variierende) Wirksamkeit der Geldpolitik.

Mit dieser Form der Kommunikation bezweckt der EZBR, seine komplexe Entscheidungsfindung in Zeiten hoher Unsicherheit anhand einfacher Kriterien nachvollziehbar zu machen. Gleichzeitig kann das Berücksichtigen der zugrunde liegenden Inflation gerade in Zeiten hoher Unsicherheit auch unter normativen Gesichtspunkten sinnvoll sein. Denn der übliche Blick auf die Prognose der Verbraucherpreisinflation kann in solchen Zeiten aufgrund möglicherweise großer Prognosefehler ein verzerrtes Bild liefern und zu suboptimalen geldpolitischen Entscheidungen führen. 

7 Geldpolitische Instrumente

Die Strategieüberprüfung des EZBR bestätigt die Leitzinsen als bedeutendstes geldpolitisches Instrument, um sicherzustellen, dass sich die Inflationsrate auf mittlere Sicht bei ihrem Ziel von 2 % stabilisiert. Soweit angemessen, können zusätzliche Instrumente eingesetzt werden, um den geldpolitischen Kurs nahe der Zinsuntergrenze zu beeinflussen. Dazu zählen längerfristige Refinanzierungsgeschäfte 51 , Wertpapierankäufe zur Senkung der Laufzeitprämien 52 , negative Leitzinsen und Forward Guidance. 53 Die genannten geldpolitischen Instrumente haben sich gemäß den Analysen, die der Strategieüberprüfung zugrunde liegen, als wirksam erwiesen, disinflationären Risiken zu begegnen. Mit intensiverer Nutzung einzelner Instrumente nehmen jedoch die unerwünschten Nebenwirkungen zu, während ihre Wirksamkeit abnehmen kann. Der kombinierte Einsatz verschiedener Instrumente wird daher als vorteilhaft angesehen.

Der EZBR behält sich vor, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte und Wertpapierkäufe auch bei positiven Leitzinsen einzusetzen, um das reibungslose Funktionieren der geldpolitischen Transmission zu bewahren. Dieser Instrumenteneinsatz wird nicht auf Situationen nahe der Zinsuntergrenze beschränkt. Der EZBR behält sich somit auch bei positiven Leitzinsen vor, im Falle von Störungen der geldpolitischen Transmission andere Instrumente als den Leitzins einzusetzen. Dabei ist die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit dem geldpolitischen Kurs zu gewährleisten. In der Vergangenheit wurden Maßnahmen im Zusammenhang mit Störungen des Transmissionsmechanismus oft in Phasen einer geldpolitischen Lockerung beschlossen, sodass sich kein Widerspruch zum geldpolitischen Kurs ergab. 54

Die geldpolitischen Instrumente sollen künftig so ausgestaltet und eingesetzt werden, dass sie eine agile und flexible Reaktion auf ein verändertes Umfeld ermöglichen. Wie in Kapitel 5 erläutert, erwies sich die Operationalisierung von „kraftvoll oder lang anhaltend“ hinsichtlich der Zins-Forward Guidance als nicht hinreichend robust, um auf unerwartete Veränderungen des Inflationsumfelds zeitnah zu reagieren. Auch andere Instrumente könnten von einem agilen Design profitieren: Im Dezember 2021 wurde eine kalenderbasierte Forward-Guidance bezüglich des Endes der Wertpapierankäufe im Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme) formuliert. Diese sah Nettokäufe bis mindestens Oktober 2022 und so lange wie notwendig danach vor. Da gleichzeitig die Ankündigung beibehalten wurde, die Leitzinsen erst nach dem Ende der Nettokäufe anzuheben, wäre eine erste Zinserhöhung erst nach Oktober 2022 zu erwarten gewesen. Im Ergebnis zeigte sich, dass verbindliche und langfristige Ankündigungen über die Dauer zukünftiger Wertpapierankäufe in Kombination mit einer zustandsabhängigen Forward Guidance für den Leitzins die Reaktionsfähigkeit der Geldpolitik in einem sich ändernden Inflationsumfeld behindern können. 

Wertpapierankäufe an der Zinsuntergrenze sollten künftig zeitnah beendet werden können, wenn das makroökonomische Umfeld dies erfordert. Künftig sollte ein agiles Design angestrebt werden, in dem Wertpapierankäufe an der Zinsuntergrenze zeitnah beendet werden können, wenn sich angesichts veränderter makroökonomischer Bedingungen das Erfordernis einer geldpolitischen Straffung abzeichnet. 55

Die Ausgestaltung der Instrumente soll die angestrebten Ziele – sei es die Steuerung des geldpolitischen Kurses oder die Behebung von Störungen in der Transmission – künftig angemessen widerspiegeln. Dabei unterliegt die Beschlussfassung zu den Instrumenten einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. 56 Dies hebt hervor, dass die geldpolitische Begründung des Instrumenteneinsatzes im Sinne des Mandats zur Gewährleistung von Preisstabilität weiterhin einen herausragenden Stellenwert hat. Es ist deshalb vorteilhaft, wenn mit dem Einsatz eines geldpolitischen Instruments ein einziges klares geldpolitisches Ziel verfolgt wird, und wenn überdies die Ausgestaltung des Instruments geeignet ist, dieses spezifische Ziel mit möglichst wenigen unbeabsichtigten Nebenwirkungen zu erreichen. 57  

Neben Agilität und einer angemessenen Repräsentation der intendierten Ziele soll sich die Ausgestaltung der Instrumente an weiteren Leitplanken orientieren. Die Vorgabe aus dem Mandat, 58 dass das Eurosystem im Einklang mit dem Grundsatz einer freien Marktwirtschaft mit offenem Wettbewerb handeln soll, setzt grundsätzliche Bedingungen für die Ausgestaltung der geldpolitischen Instrumente. Darüber hinaus hat der EZBR bereits 2021 eine Interpretation des sogenannten Sekundärziels formuliert. Danach wird er bei der Anpassung seiner geldpolitischen Instrumente – vorausgesetzt, dass zwei Konfigurationen des Instrumentensets gleichermaßen förderlich sind und die Preisstabilität nicht beeinträchtigen – jene Konfiguration wählen, die am besten die allgemeine Wirtschaftspolitik der EU 59 unterstützt. 60 Gleichzeitig soll in Anbetracht der derzeit eintretenden Verluste, wenn zwei alternative Ausgestaltungen von Instrumenten als gleich wirksam in Bezug auf die Preisstabilität beurteilt werden, jene Ausgestaltung bevorzugt werden, die effizienter ist, einschließlich in Bezug auf die (prognostizierten) Einnahmen der Zentralbank. 61

Im Rahmen der Strategieüberprüfung 2024/2025 stuft der EZBR unerwünschte Nebenwirkungen einzelner Instrumente als bisher begrenzt ein, betont aber die Notwendigkeit, diese fortlaufend zu beobachten. Der EZBR prüft systematisch die Verhältnismäßigkeit seiner geldpolitischen Maßnahmen. Dabei werden die potenziellen unerwünschten Nebenwirkungen der Maßnahmen und die erzielbaren positiven Effekte analysiert. Im Rahmen der Strategieüberprüfung kommt der EZBR zu dem Ergebnis, dass die Nebenwirkungen im Großen und Ganzen begrenzt geblieben sind, verweist jedoch auf strukturelle Verwundbarkeiten im Nichtbanken-Finanzsektor. Diese Verwundbarkeiten könnten auch durch expansive Geldpolitik verstärkt worden sein, die Anreize geschaffen hatte, risikoreichere Anlagen zu tätigen. Dies unterstreicht aus Sicht des EZBR die Bedeutung, die Widerstandsfähigkeit des Nichtbanken-Finanzsektors aus makroprudenzieller Sicht zu erhöhen. 

Die aus der Interaktion von Geld- und Fiskalpolitik entstehenden wechselseitigen Effekte wurden in der Strategieüberprüfung 2021 ausführlich behandelt und spielten während der Phase der geldpolitischen Straffung erneut eine Rolle. Eine anhaltend sehr expansive Ausrichtung der Geldpolitik kann Anreize für eine höhere Staatsverschuldung setzen. Diese wiederum begünstigt das Risiko für adverse Entwicklungen im Staatsanleihemarkt, insbesondere im Falle eines Zinsanstiegs, wenn die Kosten für den Schuldendienst steigen. 62 Im Vorfeld des ersten Leitzinsanstiegs 2022 kam es tatsächlich zum Anstieg der Risikoprämien an den Staatsanleihemärkten einiger Mitgliedstaaten mit angespannter Haushaltslage aufgrund von Sorgen über die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung auf deren fiskalische Situation. Letztendlich wurden selektive Staatsanleihekäufe im Rahmen des PEPP wieder aufgenommen und das TPI angekündigt, um das Funktionieren des geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu erhalten. 63 Dies unterstreicht die Bedeutung solider Staatsfinanzen für die Geldpolitik.

Aus Sicht der Bundesbank sollte das Eurosystem das Instrument umfangreicher Wertpapierankäufe an der Zinsuntergrenze zukünftig auch unter dem Blickwinkel möglicher damit verbundener bilanzieller Risiken bewerten. Seit sich die Zinsänderungsrisiken in den geldpolitischen Wertpapierbeständen materialisieren, entstehen für das Eurosystem finanzielle Verluste, die schwerwiegender sind als bei der letzten Strategieüberprüfung erwartet wurde. 64 Der erforderliche rasche Leitzinsanstieg hat zur Folge, dass die Zinsaufwendungen für die immer noch reichliche Überschussliquidität die Zinseinnahmen aus den geldpolitischen Wertpapierbeständen deutlich übersteigen. Dies führt zu hohen kumulierten Verlusten für das Eurosystem als Ganzes (einschließlich der Bundesbank). Die gegenwärtigen und derzeit absehbaren Verluste gefährden jedoch nicht die Fähigkeit des Eurosystems, Preisstabilität zu gewährleisten. 65  

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