Monatsbericht – März 2024

Monatsberichtsaufsatz

Gemessen an den Raten der Unternehmensgründungen und -schließungen schwächte sich die Unternehmensdynamik im Euroraum in den letzten 20 Jahren spürbar ab. Gleichzeitig verlangsamte sich das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum, und die Allokationseffizienz zwischen Unternehmen ließ nach. Diese drei Trends hängen unter Umständen zusammen: Unternehmensgründungen und -schließungen spielen eine wichtige Rolle bei der Verteilung der knappen Produktionsfaktoren auf produktive Verwendungen. Geht mit abnehmender Unternehmensdynamik die Allokationseffizienz zurück, kann dies das Produktivitätswachstum hemmen. Eine Analyse der Unternehmensdynamik kann daher zur Erklärung des schwachen Produktivitätswachstums beitragen.

Die Analyse der Unternehmensdynamik im Euroraum wird durch die Datenlage erschwert. Die Zeitreihen der amtlichen Statistik zu Markteintritten und -austritten weisen Lücken und Strukturbrüche auf. Das erschwert die Untersuchung längerer Zeiträume, insbesondere für die Zeit vor 2008, und damit die Trennung von konjunkturellen und strukturellen Entwicklungen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass sich die Unternehmensdynamik im Euroraum schon vor Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich abschwächte. Dies spricht dafür, dass neben zyklischen auch strukturelle Faktoren am Werk waren. Wertvolle Hinweise auf mögliche Treiber der Unternehmensdynamik im Euro-Währungsgebiet können Analysen für die Vereinigten Staaten liefern, wo die Datenlage zur Unternehmensdynamik ungleich besser ist. 

Zu den zyklischen Einflüssen auf die Unternehmensdynamik zählen neben dem allgemeinen Auf und Ab der Konjunktur auch der Grad an gesamtwirtschaftlicher Unsicherheit. Letztere könnte die Markteintritte von Unternehmen im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der anschließenden Staatsschuldenkrise nachhaltig gedämpft haben. Auch im Zusammenhang mit den schweren wirtschaftlichen Verwerfungen während der Coronavirus-Pandemie kam es zu einem Rückgang der Unternehmensdynamik. Eine strukturelle Belastung ergibt sich aus der demografischen Alterung im Euroraum. Regulatorische und institutionelle Hemmnisse dürften die Unternehmensdynamik ebenfalls bremsen. Ungenügender Wettbewerb ist ein weiterer möglicher Faktor.

Bessere institutionelle und regulatorische Rahmenbedingungen könnten die Unternehmensdynamik stimulieren und so das Produktivitätswachstum kräftigen. Hierzu können auch Reformen auf europäischer Ebene beitragen. Wesentliche Politikbereiche liegen jedoch in nationaler Zuständigkeit und Verantwortung.

 

1 Unternehmensdynamik und Arbeitsproduktivität

Das Wachstum der Arbeitsproduktivität lässt in vielen Industrieländern seit geraumer Zeit nach. 1 Ein Grund hierfür ist das rückläufige Wachstum der totalen Faktorproduktivität (TFP), das zu den zentralen Treibern der Arbeitsproduktivität zählt. Die TFP-Entwicklung greift den Teil des Produktionswachstums auf, der nicht auf Veränderungen des Einsatzes der Produktionsfaktoren, wie Arbeit und Kapital, zurückzuführen ist, und stellt damit ein Maß für den wirtschaftlichen Effizienzfortschritt dar. Dieser schwächte sich in zahlreichen Industrieländern – darunter im Euroraum – in der Grundtendenz deutlich ab. 2

Eine mögliche Erklärung für die Abschwächung des TFP-Wachstums ist ein Nachlassen der Allokationseffizienz. 3  Datenauswertungen für den Euroraum zeigen, dass Unterschiede im TFP-Niveau zwischen Unternehmen eines Wirtschaftssektors vom Jahr 2003 bis zum Ausbruch der Coronavirus-Pandemie im Schnitt tendenziell zunahmen. 4 Die Spanne zwischen den Effizienzniveaus der Unternehmen vergrößerte sich also im Zeitverlauf. Das deutet auf ein Nachlassen der Allokationseffizienz auf Unternehmensebene hin, also auf eine ineffizientere Verteilung von Produktionsfaktoren zwischen Unternehmen. 5 Eine effiziente Umverteilung von Produktionsfaktoren von gering zu hoch produktiven Unternehmen ist aber ein wesentlicher Treiber der gesamtwirtschaftlichen TFP-Entwicklung.

Die Umverteilung von Ressourcen zwischen Unternehmen ist eng mit der Unternehmensdynamik verknüpft. 6 Markteintritte junger Unternehmen stärken den Wettbewerb und steigern den Innovationsdruck für die Konkurrenz. Weniger profitable Unternehmen verlassen unter diesem Druck den Markt (kreative Zerstörung). 7 So werden Ressourcen für produktivere Unternehmen frei. Markteintritte und -austritte von Unternehmen sind daher von großer Bedeutung für den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt. 

 

2 Nachlassende Unternehmensdynamik im Euroraum

Eine Analyse der Unternehmensdynamik im Euroraum wird durch die schwierige Datenlage behindert. Die von Eurostat ausgewiesenen Angaben zur Unternehmensdemografie setzen frühestens im Jahr 1997 ein, wobei die Verfügbarkeit nach Ländern stark variiert. 8 9 Zudem erschweren Änderungen bei der Erhebung der Daten längerfristige Vergleiche. Im Jahr 2008 erfolgte die Einführung einer umfassend überarbeiteten statistischen Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft (NACE), die sich auch auf die Unternehmensstatistiken auswirkte. 10  Darüber hinaus gab es länderspezifische Umstellungen bei der Datengewinnung. Diese Strukturbrüche hatten zum Teil erhebliche Auswirkungen. Ein Beispiel dafür ist die Zeitreihe für Deutschland, die ab 2018 infolge methodischer Änderungen eine deutlich höhere Unternehmensdynamik aufweist. Dies legt nahe, zusätzliche Daten heranzuziehen. Für eine Analyse der längerfristigen Entwicklung der Unternehmensdynamik in Deutschland auf Basis alternativer Datenquellen siehe die Ausführungen zur rückläufigen Dynamik im deutschen Unternehmenssektor in den letzten zwei Dekaden. 11

Exkurs

Dynamik im deutschen Unternehmenssektor in den letzten zwei Dekaden insgesamt rückläufig

Für eine Bestandsaufnahme der Dynamik im deutschen Unternehmenssektor bietet sich eine Reihe von Datenquellen an. Die Unternehmensdynamik wird wesentlich durch Unternehmensgründungen und -schließungen bestimmt. Deren Bedeutung für die Allokationseffizienz und die Produktivitätsentwicklung wird in Kapitel I erläutert. Die langfristige Entwicklung von Unternehmensgründungen und Schließungen in Deutschland wird hier anhand von Daten der Gewerbeanzeigenstatistik des Statistischen Bundesamtes analysiert, die für eine längere Zeitperiode ohne Strukturbrüche vorliegen. 1 2 Die Insolvenzstatistik des Statistischen Bundesamtes liefert ergänzende Informationen über Marktaustritte. Darüber hinaus spielt die Reallokation von Arbeitsplätzen und Arbeitskräften zwischen Unternehmen eine wichtige Rolle für die Reallokationsdynamik im Unternehmenssektor. Beispielsweise stärkt es die Produktivitätsentwicklung, wenn unter bestehenden Unternehmen die produktiveren mehr Beschäftigung aufbauen. 3 Neue Daten der BA liefern wertvolle Informationen zu den Übergängen von Beschäftigten zwischen Unternehmen. Eine Auswertung von Unternehmensdaten der Bundesbank für das Verarbeitende Gewerbe gibt zudem Hinweise auf die Dynamik, die von Beschäftigungsentscheidungen bestehender Unternehmen ausgeht.

In den letzten zwei Jahrzehnten sank die Zahl der Unternehmensschließungen in Deutschland. Dies gilt sowohl für Unternehmensinsolvenzen, die zwischen 2004 und 2023 um 55 % abnahmen, als auch für Betriebsaufgaben, die im selben Zeitraum um 30 % sanken. 4 In der Zeit der Coronavirus-Pandemie verstärkte sich der rückläufige Trend trotz des starken Wirtschaftseinbruchs. Dahinter standen das temporäre Aussetzen der Insolvenzantragspflicht sowie umfangreiche staatliche Stützungsprogramme. 5

In den letzten beiden Jahren stieg die Zahl der Unternehmensinsolvenzen und der Betriebsaufgaben wieder an. Ein Grund dürften neben der schwachen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung insbesondere Nachholeffekte für die während der Pandemie ausgebliebenen Unternehmensschließungen gewesen sein. Eine Trendumkehr lässt sich aus den jüngsten Entwicklungen noch nicht ableiten.

Auch die Zahl der jährlichen Betriebsgründungen sank im Laufe der letzten zwei Dekaden. Zwischen 2004 und 2014 war die Zahl der jährlichen Gewerbeanmeldungen von Betriebshauptniederlassungen um 30 % auf circa 86 000 gefallen. Seit etwa zehn Jahren hält sie sich recht stabil auf einem relativ geringen Niveau. Im Zuge der gesamtwirtschaftlichen Erholung 2021 stieg die Zahl der Gründungen zwar kräftig an. Jedoch erwies sich dieser Anstieg nicht als nachhaltig. Zuletzt entsprach die Zahl an Gründungen mit circa 87 000 im Jahr 2023 ungefähr dem Durchschnitt der Jahre seit 2014. 

Neue Daten der BA zur Mobilität von Arbeitskräften zwischen Betrieben deuten auf ein vergleichsweise stabiles Ausmaß der Reallokation in den letzten Jahren hin. Die ab Januar 2013 verfügbaren monatlichen Zeitreihen geben Aufschluss über die Entwicklung der Zahl neuer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. 6 So kann eine Übergangsrate zwischen Beschäftigungsverhältnissen (Job2Job-Übergangsrate) berechnet werden. Sie zeigt an, welcher Anteil der Arbeitskräfte pro Monat die Stelle zwischen zwei Betrieben wechselte. 7 Die Job2Job-Übergangsrate stieg seit dem Jahr 2013 und insbesondere in den Jahren 2017 und 2018 kräftig. Zum Jahreswechsel 2018/19 setzte ein Rückgang der Rate ein. Zu Beginn der Coronavirus-Pandemie sank sie deutlich. Im Zuge des Abbaus des in der akuten Pandemie aufgestauten Reallokationsbedarfs wurde dies bis 2022 jedoch relativ zügig mehr als ausgeglichen. Seitdem ging diese Rate wieder zurück (siehe Schaubild 2.3). Die Tatsache, dass die Rate aktuell ungeachtet der schwachen realwirtschaftlichen Entwicklung weiterhin deutlich oberhalb des Niveaus von 2016 liegt, dürfte der zunehmenden Verknappung des Arbeitsangebots geschuldet sein. Aufgrund des kleiner werdenden Pools an Arbeitslosen warben sich die Unternehmen die Arbeitskräfte vermehrt gegenseitig ab.

Die zunehmende Verknappung des Arbeitsangebots wirkte sich zudem auf die langfristigen Übergangsraten aus der beziehungsweise in die Arbeitslosigkeit aus. Neben dem Job2Job-Kanal spielen auch diese Raten für den Reallokationsprozess im Unternehmenssektor eine Rolle, da neue Arbeitskräfte auch aus dem Pool der Arbeitslosen gewonnen werden können. Einerseits waren die Übergänge von der Beschäftigung in die Arbeitslosigkeit relativ zur Anzahl der Beschäftigten (der BA-Übergangsrate) lange trendmäßig rückläufig. 8 Neben demografischen Entwicklungen dürften hierzu die Arbeitsmarktreformen der 2000er Jahre beigetragen haben. 9 Diese Reformen dürften auch ein wichtiger Anstoß für den relativ raschen Anstieg der Übergänge von der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung (relativ zur Anzahl der Arbeitslosen; AB-Übergangsrate) in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre gewesen sein. 10 Nach Ausbruch der Coronavirus-Pandemie sowie nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine ging diese Rate jedoch zuletzt deutlich zurück. Insgesamt spiegeln diese Entwicklungen den trendmäßigen Rückgang der Arbeitslosenquote in Deutschland zwischen 2005 und 2019 wider. 

Die Intensität der Reallokation von Arbeitsplätzen zwischen Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes änderte sich in Deutschland zwischen 2006 und 2021 nur wenig. Expandieren produktive Unternehmen und bauen Arbeitsplätze auf, während weniger effiziente Unternehmen Beschäftigung abbauen, wirkt sich dies positiv auf die Produktivitätsentwicklung aus. 11 Die Reallokation von Arbeitsplätzen zwischen bestehenden Unternehmen wird hier mit Unternehmensdaten der Bundesbank für das Verarbeitende Gewerbe analysiert. 12 Die aggregierte Brutto-Reallokationsrate ergibt sich aus den Raten des Beschäftigungsauf- und -abbaus der Unternehmen. 13 Zwischen 2006 und 2014 nahm diese Rate tendenziell ab. Danach erholte sie sich wieder und stieg während der Coronavirus-Pandemie weiter leicht an. Zuletzt bewegte sie sich leicht oberhalb des langjährigen Mittelwerts. Die Erholung der Rate seit 2014 passt zum Anstieg der Job2Job-Rate sowie zur Übergangsrate aus der Arbeitslosigkeit in Beschäftigung in dieser Zeit. Der leichte Anstieg 2020 geht auf einen sehr starken Abbau von Arbeitsplätzen zurück. Hingegen nahm der Arbeitsplatzaufbau im Einklang mit dem Einbruch der Job2Job-Übergänge stark ab. 14

In der Gesamtschau war die Dynamik im deutschen Unternehmenssektor in den letzten zwei Jahrzehnten abnehmend und könnte daher ein Faktor für die gedämpfte Produktivitätsentwicklung gewesen sein. Insbesondere die Zahl der Unternehmensschließungen und -gründungen nahm stark ab. Indikatoren zur Reallokation von Beschäftigten und Arbeitsplätzen zwischen Unternehmen blieben im Mittel über die Zeit hingegen recht stabil. Dies passt zur zunehmenden Anspannung am deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen zehn Jahren. Eine zuvor rückläufige Tendenz bei der Arbeitsplatzreallokation könnte dadurch aufgefangen worden sein. Der Befund einer insgesamt abnehmenden Unternehmensdynamik für Deutschland passt zu den Entwicklungen im Euroraum insgesamt.

Um trotz der schwierigen Datenlage Informationen über die Entwicklung der Unternehmensdynamik im Euroraum zu gewinnen, nutzen wir einen Panel-Ansatz. So lassen sich die aus der problematischen Datenlage in einzelnen Ländern resultierenden Herausforderungen abmildern. Dabei werden Querschnittsinformationen – hier sektorale nationale Angaben zu Gründungs- und Schließungsraten von Unternehmen (oder synonym Markteintrittsraten und -austrittsraten) – einbezogen. Dies erlaubt es, die Unternehmensdynamik über die Zeit zu vergleichen, obwohl in manchen Ländern die Zeitreihendimension eingeschränkt ist, Datenlücken vorliegen und es aufgrund methodischer Änderungen Niveauverschiebungen gibt. In einem solchen Panel-Ansatz werden länderspezifische sektorale Markteintrittsraten und -austrittsraten auf eine Konstante und Indikatorvariablen für die Länder, Jahre, Sektoren sowie Strukturbrüche regressiert. 12 13 Der durchschnittliche Verlauf der jährlichen Gründungs- und Schließungsraten über die im Modell eingeschlossenen Länder und Sektoren lässt sich aus den geschätzten Koeffizienten der Zeitindikatoren ableiten. 

Der Verlauf von Gründungs- und Schließungsraten, zusammengefasst in der Churn-Rate, gibt deutliche Hinweise auf eine im Zeitablauf nachlassende Unternehmensdynamik im Euroraum. 14  DiChurn- oder Umschlags-Rate wird als Summe der Markteintrittsraten und -austrittsraten berechnet. Da ab dem Jahr 2008 eine grundlegend überarbeitete statistische Systematik der Wirtschaftszweige angewendet wird, betrachten wir zwei Teilperioden. 15 Zwischen 1998 und 2007 ließ die Unternehmensdynamik gemessen an der Churn-Rate vor allem wegen einer sinkenden Gründungsrate nach. Dies gilt insbesondere für den Zeitraum zwischen 1998 und 2003. Danach gab es zwar eine gewisse Erholung, die Gründungsrate erreichte aber nicht mehr das Niveau des Jahres 1998. Die Marktaustrittsrate schwankte zwischenzeitlich, hatte aber keinen klaren Trend. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass die Datenbasis für diesen Zeitraum dünn ist, sich erheblich zwischen den Ländern unterscheidet und Informationen zu Strukturbrüchen fehlen. 16 Wesentlich belastbarer sind die Ergebnisse für den Zeitraum ab 2008. Seitdem ließ die Unternehmensdynamik relativ stetig nach. Im Zuge der Coronavirus-Pandemie sank dabei zuletzt insbesondere die Markteintrittsrate.

Besonders bemerkenswert ist, dass sich die Markteintrittsraten im Zuge der günstigen Konjunktur zwischen 2013 und 2019 nicht erholten. In diesen Jahren stieg das BIP des Euroraums durchschnittlich um 1,6 % pro Jahr, und die Arbeitslosenquote sank von 12,0 % auf 7,5 %. In einem solchen Umfeld hätte man steigende Gründungsraten erwarten können. Ein derartiges zyklisches Muster kann zumindest für die USA dokumentiert werden: Hier sind Unternehmensgründungen in der Tendenz prozyklisch, Unternehmensschließungen hingegen antizyklisch (siehe Ausführungen zur zyklischen Entwicklung der Unternehmensdynamik in den Vereinigten Staaten). 17

Exkurs

Zur zyklischen Entwicklung der Unternehmensdynamik in den Vereinigten Staaten

Markteintritte und -austritte von Unternehmen sind ein wichtiges Merkmal von Konjunkturzyklen. Gesamtwirtschaftliche Boom- oder Schwächephasen können die Entscheidung, Unternehmen zu gründen oder zu schließen, wesentlich beeinflussen. Markteintritte und -austritte beeinflussen wiederum Beschäftigung und Produktivität und auf diese Weise auch den Konjunkturverlauf selbst. 

Für die USA kann anhand von langen Zeitreihen untersucht werden, wie sich Trend und zyklischer Verlauf der Unternehmensdynamik in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Detaillierte Angaben der Business Dynamics Statistics (BDS) erlauben eine Analyse der Markteintritts- und -austrittsraten über den Zeitraum von 1979 bis 2020. 1 Um die zyklische Entwicklung zu betrachten, werden die Zeitreihen der Gründungs- und Schließungsraten in einen Trend und eine zyklische Komponente zerlegt. 2 Gemessen am Trend ließ die Unternehmensdynamik auch in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten deutlich nach (siehe Schaubild 2.5). 

Die zyklische Komponente der Markteintrittsrate weist in den USA einen hohen Gleichlauf mit der Konjunktur auf. Der Zusammenhang von Unternehmensdynamik und Konjunkturzyklus wird anhand der Korrelation von Gründungs- und Schließungsraten mit der realen Wachstumsrate des BIP untersucht. 3 Hierbei ergibt sich eine statistisch signifikante, stark positive Wechselbeziehung zwischen der Gründungsrate und dem Wachstum des BIP: Bei guter Konjunkturlage gibt es mehr Unternehmensgründungen (siehe Tabelle 2.1).

Tabelle 2.1: Korrelation von realer BIP-Wachstumsrate und Markteintrittsraten und -austrittsraten für ausgewählte Größenklassen von Unternehmen1)

Größenklasse     Markteintrittsrate     Marktaustrittsrate     Anteil an Gesamtzahl der Unternehmen (in %)2)
Alle Unternehmen 

0,64

(0,00)

-0,29

(0,06)

100,00

Anzahl Mitarbeiter:
1 – 4

0,62

(0,00)

-0,37

(0,02)

58,58

5 – 9

0,66

(0,00)

-0,16

(0,32)

17,95

10 – 19

0,50

(0,00)

-0,07

(0,64)

11,35

20 – 99

0,39

(0,01)

-0,12

(0,45)

9,95

100 – 2 499

-0,07

(0,67)

-0,17

(0,28)

2,08

Quellen: Bureau of Economic Analysis, Census Bureau und eigene Berechnungen. 1 Korrelation der Markteintrittsrate (Marktaustrittsrate) mit dem realen BIP-Wachstum über den Zeitraum 1979 bis 2020 für verschiedene Größenklassen von Unternehmen in den Vereinigten Staaten. Signifikante Korrelationen (auf dem 10 %-Niveau) sind hervorgehoben. In den Klammern werden P-Werte angegeben. 2 Anteil der Unternehmen in der jeweiligen Größenklasse an der Gesamtzahl der Unternehmen im Beobachtungsjahr 2020 in Prozent. 

Die Marktaustrittsrate verhält sich hingegen antizyklisch. Die Schließungsrate korreliert negativ mit dem Wachstum des BIP. Verglichen mit der Markteintrittsrate ist der statistische Zusammenhang jedoch weniger ausgeprägt. Nichtsdestotrotz deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Unternehmen vermehrt in wirtschaftlichen Schwächephasen den Markt verlassen.

Die Zyklizität der Markteintrittsrate und -austrittsrate wird von kleinen Unternehmen getrieben. Unternehmen werden in der Regel klein geboren und verlassen den Markt oft klein. Dies zeigt sich, wenn die Wechselwirkung zwischen Konjunkturverlauf und Unternehmensdynamik für verschiedene Größenklassen betrachtet wird (siehe Tabelle 2.1). Der Gleichlauf von Markteintrittsrate und BIP-Wachstum ist am stärksten für Unternehmen mit einem bis neun Beschäftigten. Für Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden findet sich hingegen kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der Gründungsrate und dem Konjunkturverlauf. Die Marktaustrittsrate verhält sich ausschließlich für kleine Unternehmen mit bis zu vier Beschäftigten signifikant antizyklisch. Für größere Unternehmen lässt sich ein solcher statistischer Zusammenhang nicht mehr finden. 4

Die Wechselbeziehung zwischen Unternehmensdynamik und BIP-Wachstum schwächte sich im Zeitverlauf ab. Seit etwa 2011 zeigt die zyklische Komponente der Markteintrittsraten auffallend wenig Variation. Ähnliches gilt für die zyklische Variation der Schließungsrate, die erst im Jahr 2020 wieder merklich anzog.  

Ein Strukturbruchtest deutet darauf hin, dass sich der Zusammenhang zwischen Markteintrittsraten und gesamtwirtschaftlicher Aktivität seit Ausklingen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise verflüchtigt hat. Der statistische Test gibt Auskunft darüber, ob sich die Stärke der Korrelation zu einem nicht näher spezifizierten Zeitpunkt signifikant geändert hat. 5 Es wird somit kein konkretes Bruchdatum vorgegeben, sondern in einem vorgegebenen Zeitintervall der wahrscheinlichste Zeitpunkt für einen möglichen Bruch ermittelt. 6 Für die Korrelation von Markteintrittsrate und BIP-Wachstum identifiziert der Test einen signifikanten Strukturbruch im Jahr 2011. 7 Von da an besteht kein signifikanter Zusammenhang mehr zwischen der Markteintrittsrate und der konjunkturellen Lage (siehe Tabelle 2.2). Die kontemporäre Korrelation wechselt sogar das Vorzeichen. 8

Tabelle 2.2: Zeitliche Veränderung der Korrelationsbeziehung von Markteintrittsrate und Marktaustrittsrate mit dem Konjunkturzyklus1)

ZeiträumeMarkteintrittsrateMarktaustrittsrate
1979 – 2010

0,68

(0,00)

 

2011 – 2020

-0,24

(0,51)

 

1979 – 2009

 

-0,38

(0,03)

2010 – 2020

 

0,03

(0,94)

Quellen: Bureau of Economic Analysis, Census Bureau und eigene Berechnungen. 1 Korrelationsbeziehungen der Markteintrittsrate und der Marktaustrittsrate in den USA mit dem realen BIP-Wachstum von 1979 bis 2010 (beziehungsweise 2009), sowie 2011 (beziehungsweise 2010) bis 2020. In den Klammern werden P-Werte angegeben. Signifikante Korrelationen (auf dem 10 %-Niveau) sind hervorgehoben.

Auch hinsichtlich des Zusammenhangs von Marktaustrittsraten und BIP-Wachstum gibt es Hinweise auf eine Veränderung nach Abklingen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Evidenz ist hierbei jedoch schwächer als bei den Gründungsraten. Der Test gibt zwar Hinweise auf einen Strukturbruch im Jahr 2010, die Teststatistik ist allerdings nicht statistisch signifikant. 9 Es zeigt sich ab diesem Datum allerdings auch keine signifikante Beziehung zum Konjunkturverlauf. Betrachtet man hingegen das Verhalten der Schließungsrate für die Zeit vor dem Bruchdatum, ist dieses deutlich antizyklischer und statistisch stärker signifikant als für den Gesamtzeitraum. 

Die eingeschränkte Wirtschaftsaktivität während der Coronavirus-Pandemie ging mit einer deutlich verringerten Unternehmensdynamik einher. Im Jahr 2020 sank die Markteintrittsrate merklich. Allerdings gab auch die Marktaustrittsrate leicht nach. Dies mag mit der besonderen Natur der pandemiebedingten Wirtschaftskrise zu tun gehabt haben, vermutlich vor allem aber mit der wirtschaftspolitischen Reaktion, die darauf zielte, das Überleben der Unternehmen zu sichern und Arbeitsplätze zu erhalten. 18  

Die Abschwächung der Unternehmensdynamik war regional breit angelegt. 19  Mit Ausnahme von Belgien sank die Churn-Rate zwischen 2008 und 2020 in allen betrachteten Ländern. Vergleichsweise deutlich war der Rückgang in Frankreich und Spanien. 20  Auch in Deutschland und den Niederlanden sank die Rate merklich. 21 In diesen beiden Ländern lässt sich das Nachlassen der Unternehmensdynamik insbesondere auf abnehmende Markteintrittsraten zurückführen. In Spanien war es hingegen vor allem die rückläufige Marktaustrittsrate. Dies gilt auch für die Periode 2008 bis 2012 in Frankreich. Dort erklärt sich der anschließende Rückgang der Churn-Rate zwischen 2013 und 2020 vor allem durch die pandemiebedingte Verringerung der Markteintrittsrate. Die Markteintrittsraten und -austrittsraten in Italien und Belgien zeigten im Vergleich weniger Variation, obwohl auch hier die Coronavirus-Pandemie die Unternehmensdynamik dämpfte. In Belgien hat die Entwicklung der Churn-Rate keinen klaren Trend. In Italien ließ die Unternehmensdynamik erst ab 2015 merklich nach.

Auch sektoral ergibt sich ein recht einheitliches Bild: Im Zeitverlauf sanken die Markteintrittsraten und -austrittsraten in allen betrachteten Wirtschaftszweigen. 22 Im Hinblick auf die Markteintrittsrate war hierfür nicht zuletzt der teils sehr deutliche Rückgang im ersten Jahr der Coronavirus-Pandemie verantwortlich – wie beispielsweise besonders deutlich im Gastgewerbe zu sehen. Aber auch vor dem Ausbruch der Pandemie gab es recht ausgeprägte Rückgänge der Gründungsraten, etwa in der Finanz- und Versicherungsbranche, im Grundstücks- und Wohnungswesen sowie in einigen DienstleistungsbranchenIm Verarbeitenden Gewerbe bewegte sich die Gründungsrate hingegen deutlich wenigerBei der Schließungsrate gab es vor allem in den Jahren nach Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der anschließenden europäischen Staatsschuldenkrise größere Bewegungen. Sowohl im Bauwesen als auch im Grundstücks- und Wohnungswesen sank die Marktaustrittsrate in dieser Zeit deutlich, nachdem es vorher in einigen Ländern (darunter Spanien) zu teils erheblichen Verwerfungen in diesen Sektoren gekommen war. 23  In den Bereichen der Sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen sowie der Freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen sank die Schließungsrate ebenfalls merklich. Die sektoralen Markteintrittsraten unterschieden sich sowohl in der Höhe als auch im Verlauf deutlicher als die Austrittsraten. Zudem waren die Gründungs- und Schließungsrate im Dienstleistungssektor deutlich höher als im Verarbeitenden Gewerbe und bewegten sich auch mehr. Eine Erklärung hierfür dürfte der im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe höhere Anteil kleiner Unternehmen sein. Untersuchungen zeigen, dass die gesamtwirtschaftliche Unternehmensdynamik maßgeblich durch die Gründung und Schließung kleiner Unternehmen getrieben wird. 24  

 

3 Mögliche Gründe für die Verlangsamung der Unternehmensdynamik

Das Nachlassen der Unternehmensdynamik kann zyklische und strukturelle Gründe haben. Die Unternehmensdynamik hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben konjunkturellen Einflüssen zählen hierzu strukturelle Hemmnisse wie beispielsweise übermäßige Bürokratie, mangelnde institutionelle Qualität und der demografische Wandel. All dies sind unter anderem Gründe für Anpassungsschwierigkeiten auf Produkt- und Faktormärkten. Zwischen zyklischen und strukturellen Einflüssen zu unterscheiden ist teilweise sehr herausfordernd. Längerfristige Trends in den Markteintrittsraten und -austrittsraten können ein Hinweis auf strukturelle Einflüsse sein. Aus den Eurostat-Daten können aus den bereits erwähnten Gründen jedoch erst ab 2008 belastbare Ergebnisse abgeleitet werden. Nicht zuletzt wegen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der sich anschließenden europäischen Staatsschuldenkrise, die in diesen Zeitraum fallen, ist es schwer, damit den Einfluss rein struktureller Faktoren für die Abschwächung der Unternehmensdynamik zu identifizieren. 

Über einen längeren Zeitraum vorliegende Indikatoren der OECD liefern Hinweise dafür, dass sich die Unternehmensdynamik im Euroraum nicht allein wegen zyklischer Faktoren abgeschwächt hat. Eine Auswertung für acht Euro-Länder zeigt, dass insbesondere die durchschnittliche Markteintrittsrate bereits vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sank. 25 Neben zyklischen dürften daher auch strukturelle Einflüsse für den Rückgang der Unternehmensdynamik im Euroraum verantwortlich sein. In dieses Bild passt auch, dass in einer Reihe großer Industrieländer außerhalb des Euroraums – darunter die Vereinigten Staaten – die Unternehmensdynamik ebenfalls im Trend nachließ (siehe hierzu auch die Ausführungen zur zyklischen Entwicklung der Unternehmensdynamik in den Vereinigten Staaten).

Die Bedeutung zyklischer und struktureller Faktoren kann mithilfe quantitativer Methoden näher untersucht werden. Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Datenlage im Euroraum dienen hier Ursache-Wirkungs-Analysen für die Vereinigten Staaten als Referenzpunkt. Auch wenn die Ergebnisse für die Vereinigten Staaten nicht unmittelbar auf den Euroraum übertragbar sind, können sie dennoch wertvolle Hinweise auf mögliche Treiber im Euro-Währungsgebiet liefern.

3.1 Zyklische Faktoren

Schwere gesamtwirtschaftliche Verwerfungen sind eine mögliche Erklärung für die kraftlose Unternehmensdynamik im Euroraum. Schwankungen von Markteintritten und -austritten sind ein zentrales Merkmal von Konjunkturzyklen. In konjunkturellen Aufschwüngen werden typischerweise vermehrt Unternehmen gegründet, während in Abschwüngen tendenziell vermehrt Unternehmen geschlossen werden. Analysen für die Vereinigten Staaten zeigen, dass das konjunkturelle Muster der Markteintrittsraten deutlich stärker ausgeprägt ist, als jenes der Marktaustrittsraten (siehe hierzu auch die Ausführungen zur zyklischen Entwicklung der Unternehmensdynamik in den Vereinigten Staaten). Starke wirtschaftliche Einbrüche – wie etwa infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise – können die Markteintrittsrate von Unternehmen erheblich drücken und so die Unternehmensdynamik insgesamt schwächen. 26

Ein krisenbedingter Anstieg der Unsicherheit kann die Gründungsrate nachhaltig dämpfen. Unsicherheit kann die Gründungsrate über verschiedene Kanäle beeinflussen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das veränderte Investitionsverhalten. 27 Investitionen – wie die Gründung eines Unternehmens – sind häufig mit erheblichen irreversiblen Kosten verbunden. Deshalb könnten Gründungsvorhaben bei erhöhter Unsicherheit eher aufgeschoben werden, um die Entscheidung später bei besserer Informationslage zu treffen. 28 Auch unsicherheitsbedingte Finanzmarktreaktionen – wie steigende Risikoaufschläge und eine eingeschränkte Kreditvergabe – können der Gründung von Unternehmen im Wege stehen. 29

Schätzungen für die Vereinigten Staaten zeigen einen nachhaltigen Rückgang der Markteintritte nach einem unerwarteten Anstieg von Unsicherheit. Um genauer abzuschätzen, welche Wirkung von Unsicherheit auf die Markteintrittsrate ausgehen kann, wird ein strukturelles vektorautoregressives (SVAR) Modell geschätzt. 30 Neben einer Reihe von makroökonomischen Variablen umfasst das Modell einen Indikator für Finanzmarktunsicherheit 31 sowie Angaben zu Markteintritten von Unternehmen. 32 Die aus dem Modell abgeleitete Impuls-Antwort-Folge zeigt, dass auf einen unerwarteten Anstieg der Finanzmarktunsicherheit die Markteintritte merklich und lang anhaltend sinken.

Erhöhte Unsicherheit im Euroraum ist auch eine mögliche Erklärung für die schwachen Markteintrittsraten in der Nachkrisenphase. Indikatoren für den Euroraum zeigen, dass die Finanzmarktunsicherheit während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der anschließenden Staatsschuldenkrise wiederholt außergewöhnlich hoch war. Mit Blick auf die Schätzergebnisse für die Vereinigten Staaten ergibt sich damit ein Erklärungsansatz für die weit über die Krisenperiode hinausgehende, auffällig schwache Entwicklung der Markteintrittsrate im Euro-Währungsgebiet.

Auch Politikreaktionen auf gesamtwirtschaftliche Entwicklungen können sich auf die Unternehmensdynamik auswirken. Hierzu zählt zum einen die Konjunkturstützung durch die Fiskalpolitik. Analysen auf Basis eines strukturellen makroökonomischen Modells zeigen beispielsweise, dass das Programm der deutschen Regierung zur Stabilisierung der Wirtschaft während der Coronavirus-Pandemie die Marktaustrittswahrscheinlichkeit von Unternehmen teilweise deutlich über die unmittelbare Krisenphase hinaus verringerte. 33 Auch die Geldpolitik kann sich grundsätzlich auf die Entwicklung von Markteintritten und ‑austritten auswirken, indem sie etwa zur konjunkturellen Stabilisierung beiträgt. Die Folgen für die Unternehmensdynamik hängen dabei auch von der Ausgestaltung der Geldpolitik ab. So gibt es beispielsweise Hinweise darauf, dass die ausgedehnten Maßnahmen im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der anschließenden Staatsschuldenkrise den Verbleib unrentabler Unternehmen im Markt begünstigten und somit zur auffallend schwachen Unternehmensdynamik im Euroraum in der anschließenden konjunkturellen Aufwärtsphase beitrugen (siehe hierzu auch die Ausführungen zu möglichen Nebenwirkungen einer lang anhaltend expansiven Geldpolitik auf die Unternehmensdynamik im Euroraum).

Exkurs

Zu möglichen Nebeneffekten einer lang anhaltend expansiven Geldpolitik auf die Unternehmensdynamik im Euroraum

Als Reaktion auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und die darauffolgende europäische Staatsschuldenkrise wurden die Leitzinsen im Euroraum über lange Zeit auf einem niedrigen, teils negativen Niveau gehalten. Zudem gab es unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen, wie etwa das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten und die Bekundung, die Notenbankzinsen auf absehbare Zeit nicht anzuheben (Forward guidance). 1 Dies trug dazu bei, den Einbruch der Wirtschaftsleistung abzufedern und im Rahmen des geldpolitischen Mandats die Inflationsrate zu stabilisieren. 

Die Forschung hat sich intensiv mit den gesamtwirtschaftlichen Effekten einer lang anhaltenden expansiven Geldpolitik befasst, auch mit potenziell unerwünschten Nebenwirkungen. 2 Befürchtet wird unter anderem, dass eine lang anhaltend expansive Geldpolitik die Unternehmensdynamik hemmen könnte und dies zu produktivitätsdämpfenden Fehlallokationen von Produktionsmitteln führt. Hierbei sind verschiedene Wirkungskanäle denkbar. Zum einen verringern sich in einem Niedrigzinsumfeld die Refinanzierungskosten für Unternehmen, auch für jene mit geringer Produktivität. Das kann den Marktaustritt von Unternehmen verhindern. 3 Die Folge wären geringere Profitmargen aufgrund eines verschärften Wettbewerbs um Absatzmärkte und Produktionsfaktoren, die den Markteintritt potenzieller Kandidaten hemmen würden. 4 Eine lang anhaltend expansive Geldpolitik kann zudem die Profitabilität von Kreditinstituten verringern. 5 Um Forderungsabschreibungen, Verlustrealisierungen oder Rückstellungsbildung zu vermeiden, könnten Banken dazu verleitet sein, weitere Mittel an nicht wettbewerbsfähige Unternehmen zu vergeben. 6

Verschiedene empirische Studien deuten an, dass die lang anhaltende expansive Geldpolitik im Euroraum die Unternehmensdynamik belastet haben könnte. Mikrodaten für zwölf EU-Länder, darunter Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, geben Hinweise darauf, dass infolge der geldpolitischen Ausrichtung im Nachgang der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise der Anteil von unprofitablen Unternehmen mit Zugang zu günstigen Finanzierungsbedingungen anstieg. 7 Panel-Schätzungen weisen zudem darauf hin, dass dies mit einer geringeren Rate von Unternehmenseintritten und -austritten verbunden war. 8 Dieser Befund könnte erklären, weshalb die Unternehmensdynamik im Euroraum – trotz der breit angelegten konjunkturellen Aufwärtsbewegung – in der Niedrigzinsphase kraftlos blieb (siehe hierzu auch Abschnitt 2 und dort vierter Absatz).

Eigene Simulationen deuten an, dass der geldpolitische Expansionsgrad die Unternehmensdynamik auch noch in der anschließenden Normalisierungsphase beeinflusst haben könnte. Die Analyse basiert auf einem stilisierten neukeynesianischen dynamischen stochastischen allgemeinen Gleichgewichtsmodell (DSGE-Modell) mit endogenem Markteintritt und -austritt von Unternehmen. 9 Haushalte können ihr Einkommen nicht nur in Anleihen und physisches Kapital investieren, sondern damit auch Unternehmensgründungen fördern. Die Geldpolitik wird durch eine Taylor-Regel abgebildet, wobei der kurzfristige Nominalzins durch eine Nullzinsgrenze begrenzt ist. Um die Auswirkungen längerer Niedrigzinsen zu skizzieren, wird unterstellt, dass die Modellökonomie von einem kräftigen Nachfrageschock getroffen wird. 10 Dann werden zwei Szenarien verglichen, die sich durch ihren geldpolitischen Expansionsgrad unterscheiden. In beiden Szenarien führt der Nachfrageschock zunächst zu einem deutlichen Rückgang von Konsum und Investitionen. Aufgrund der gesunkenen Nachfrage verringern Unternehmen ihre Produktion und senken die Preise, was wiederum zu vermehrten Marktaustritten von Unternehmen führt. Die Geldpolitik senkt den Zinssatz, bis dieser die Nullzinsgrenze erreicht. Der Unterschied zwischen den beiden Szenarien besteht darin, wie lange der kurzfristige Zinssatz an der Nullzinsgrenze gehalten wird.

Gemäß Modellsimulationen kann eine expansivere Geldpolitik die Gesamtwirtschaft schneller stabilisieren, dämpft aber die Unternehmensdynamik während der anschließenden Normalisierung. Die Simulationsergebnisse zeigen, dass sich die Gesamtwirtschaft in dem Szenario mit einer stärker expansiven Geldpolitik schneller erholt. Auch die Markteintrittsrate erreicht früher ihr Vorkrisenniveau. Die Marktaustrittsrate fällt kurzfristig sogar darunter. Allerdings führt die expansivere Geldpolitik auch zu geringeren Gründungs- und Schließungsraten in der anschließenden geldpolitischen Normalisierungsphase. In dieser steigt der reale Zinssatz an. Folglich müssen die Renditen von Kapital- und Unternehmensinvestitionen ebenfalls zunehmen, damit Haushalte in diese Anlagen investieren. 11 Neben dem physischen Kapitalstock muss sich hierfür auch die Zahl der im Markt befindlichen Unternehmen verringern, die zuvor durch die expansivere Geldpolitik vergrößert wurde. Je höher dabei der vorherige geldpolitische Expansionsgrad war, desto stärker fällt insbesondere die Markteintrittsrate während der geldpolitischen Normalisierung. Dies trägt wiederum zu einer insgesamt schwächeren Unternehmensdynamik bei. 12  

3.2 Strukturelle Faktoren

Der demografische Wandel ist eine weitere mögliche Ursache für die nachlassende Unternehmensdynamik. Dabei sind verschiedene Kanäle denkbar. Mit der Alterung einer Bevölkerung sinkt tendenziell das Arbeitsangebot. 34 Auch könnten mit steigendem Lebensalter Innovationstätigkeit und Risikobereitschaft nachlassen. 35 Diese Faktoren spielen aber eine Schlüsselrolle bei der Gründung von Unternehmen. Ein abnehmendes Erwerbsbevölkerungswachstum sowie eine zunehmende Lebenserwartung könnten zudem die Ersparnisbildung stimulieren. Dadurch verringert sich tendenziell der Realzins, was die Refinanzierung des Anlagevermögens etablierter Unternehmen erleichtert. Dies kann zur Folge haben, dass weniger Unternehmen schließen. Für potenzielle Markteintrittskandidaten kann daraus ein Wettbewerbsnachteil entstehen, der sich langfristig in einer niedrigeren Gründungsrate niederschlägt. 36

Untersuchungen für die Vereinigten Staaten zeigen einen deutlichen Einfluss der Bevölkerungsalterung auf die Unternehmensdynamik. Die Analysen basieren auf einem vektorautoregressiven Modell, das für ein Panel von 50 US-Bundesstaaten über den Zeitraum von 1980 bis 2018 geschätzt wurde. 37 Demnach hatte der Altenquotient einen deutlich negativen Einfluss auf die US-Unternehmensdynamik. In den kommenden Jahren dürften die demografischen Belastungen gemäß den Bevölkerungsprojektionen des U.S. Census Bureau noch zunehmen. Modellsimulationen verdeutlichen, dass die Bevölkerungsalterung auch in Zukunft die US-Unternehmensdynamik deutlich bremsen dürfte. 38

Der empirische Befund für die Vereinigten Staaten legt nahe, dass die Bevölkerungsalterung auch im Euroraum die Unternehmensdynamik dämpft. In den vier größten Euro-Ländern fällt der Altenquotient teilweise sogar deutlich höher aus als in den USA, was im Wesentlichen auf eine höhere Lebenserwartung der Bevölkerung zurückgeht. 39 Zudem stieg der Altenquotient in den letzten Jahrzehnten deutlich früher und stärker an. Entsprechend liegt es nahe, dass der demografische Wandel im Euroraum womöglich in noch stärkerem Maße zu einer abnehmenden Unternehmensdynamik beigetragen hat.

Die Qualität des regulatorischen und institutionellen Umfelds ist ein weiterer struktureller Faktor, der die Unternehmensdynamik beeinflussen kann. Ein funktionierendes Rechtssystem sowie eine effiziente Verwaltung sind wichtige Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln. Untersuchungen zeigen, dass sich beispielsweise Korruption oder ein unzureichender Schutz geistigen Eigentums negativ auf Unternehmensgründungen auswirken. 40 Hemmnisse für die Unternehmensdynamik ergeben sich auch bei einem erschwerten Zugang zu Finanzierungsquellen oder einem wenig effizienten Insolvenzrahmen. 41 Daneben wirken sich Umfang und Art der Regulierung auf die Unternehmensdynamik aus. Hemmnisse auf Produktmärkten wie ein hoher Verwaltungsaufwand, Privilegien einzelner Berufsgruppen oder komplexe Regulierungsprozesse können die Gründung von Unternehmen erschweren. 42 Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass Rigiditäten auf den Arbeitsmärkten – wie etwa ein sehr strikter Kündigungsschutz – den Markteintritt und -austritt von Unternehmen dämpfen. 43

Strukturreformen sind ein möglicher Weg, um die Unternehmensdynamik zu erhöhen. Politikmaßnahmen, die institutionelle und regulatorische Rahmenbedingungen gesamtwirtschaftlicher Prozesse verbessern, können helfen, die Unternehmensdynamik nachhaltig zu steigern. 44 Simulationsanalysen auf Basis eines makroökonomischen Strukturmodells deuten an, dass geringere regulatorisch bedingte Markteintrittskosten der Unternehmensdynamik im Euroraum einen nachhaltigen Impuls geben könnten. 45

Den Reformpotenzialen im Euroraum steht eine mäßige Reformdynamik gegenüber. Deutliche Hinweise auf bestehende regulatorische und institutionelle Hemmnisse ergeben sich unter anderem aus den länderspezifischen Empfehlungen, die die Europäische Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters erteilt. 46 Hierzu zählen etwa die Verringerung des Verwaltungsaufwands für Unternehmen oder die Steigerung der Effizienz von öffentlicher Verwaltung und Justizwesen. 47 In dieses Bild passen auch die Ergebnisse von Umfragen unter EU-Unternehmen, die unter anderem komplizierte Verwaltungsverfahren und regulatorische Kosten als erhebliche Belastungsfaktoren beklagen. 48 Trotz deutlicher Hinweise auf bestehenden Reformbedarf deuten die Angaben zum Umsetzungsstand der Empfehlungen der Europäischen Kommission an, dass die Reformdynamik im Euroraum in den Bereichen Arbeitsmarkt, Produktmarkt und Geschäftsumfeld über die letzten Jahre tendenziell nachgelassen hat. 49

Eine Reihe von Untersuchungen weist auf den möglichen Zusammenhang zwischen abnehmender Wettbewerbsintensität und schwacher Unternehmensdynamik hin. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen ist ein wichtiger Mechanismus, um Produktionsmittel effizient zu verteilen. Die Intensität des Wettbewerbs wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Hierzu zählen etwa Markteintrittsbarrieren, die Offenheit gegenüber ausländischer Konkurrenz sowie kartell- und wettbewerbsrechtliche Regeln. 50 Unternehmen können aber auch aufgrund von Innovationen Wettbewerbsvorteile erlangen. 51 Die gesamtwirtschaftlichen Folgen einer nachlassenden Wettbewerbsintensität werden seit Längerem intensiv erörtert. 52 Jüngere Analysen verweisen auf einen möglichen dämpfenden Einfluss zunehmender Preissetzungsmacht auf die Unternehmensdynamik. 53 Es ist beispielsweise denkbar, dass etablierte Unternehmen ihre Marktposition ausnutzen, um den Eintritt potenzieller Konkurrenten zu verhindern. 54 Auch eine durch technologischen Fortschritt bedingte marktbeherrschende Stellung oder die wachsende Bedeutung von informationsbasierten Gütern, die sich durch vergleichsweise hohe Fix- und geringe Grenzkosten auszeichnen, können eine rückläufige Unternehmensdynamik erklären. 55  

Hinreichende Belege für eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Wettbewerbsintensität und Unternehmensdynamik stehen jedoch aus. Dies gilt auch für den Euroraum. Dort dürfte dies neben der schwierigen Datenlage zur Unternehmensdynamik insbesondere daran liegen, dass bisherige Untersuchungen zur Entwicklung von Marktkonzentration und Preisaufschlägen in den Ländern des Euroraums ein gemischtes Bild liefern. Hinweisen auf eine deutliche Zunahme der Marktmacht stehen Schätzungen gegenüber, die auf keine oder allenfalls eine moderate Abnahme der Wettbewerbsintensität schließen lassen. 56

 

4 Fazit

Gemessen an den Markteintrittsraten und -austrittsraten schwächte sich die Unternehmensdynamik in den großen Ländern des Euro-Währungsgebiets über die letzten Jahrzehnte tendenziell ab. Diese Entwicklung dürfte Fehlallokationen im Unternehmenssektor begünstigt haben und stellt eine mögliche Erklärung für das nachlassende Produktivitätswachstum im Euroraum dar.

Hinter der Abschwächung der Unternehmensdynamik im Euroraum dürften teilweise zyklische Faktoren stehen. Die durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und die sich anschließende Staatsschuldenkrise bedingte Verunsicherung der Marktakteure ist eine Erklärung für die schwache Dynamik der Markteintrittsrate in der Nachkrisenphase. Auch die Entwicklungen im Zuge der Coronavirus-Pandemie haben die Unternehmensdynamik belastet. Die Gründungs- und Schließungsraten könnten dabei durch Politikmaßnahmen beeinflusst worden sein, die vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ergriffen wurden.

Hinweise auf bereits vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sinkende Gründungs- und Schließungsraten deuten auch auf den Einfluss struktureller Faktoren hin. Hierzu zählt unter anderem der demografische Wandel. Ausufernde Regulierung und mangelnde institutionelle Qualität dürften sich ebenfalls negativ auf die Unternehmensdynamik im Euroraum auswirken.

Aufgaben wie die digitale und die ökologische Transformation der europäischen Wirtschaft werden die Bedeutung einer dynamischen Unternehmenslandschaft für Wachstum und Wohlstand erhöhen. Um das Potenzial der Digitalisierung auszuschöpfen, ist es unerlässlich, jungen und innovativen Unternehmen den Zugang zu Absatzmärkten und Produktionsmitteln zu erleichtern. Dafür müssen unproduktive Unternehmen den Markt verlassen. Auch der Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft verlangt nach einem dynamischen Marktumfeld. Der Erfolg der ökologischen Transformation hängt unter anderem davon ab, wie sensitiv Unternehmen und Branchen auf klimapolitische Signale reagieren.

Strukturreformen stellen ein Schlüsselelement staatlicher Handlungsmöglichkeiten dar. Vor dem Hintergrund der Reformpotenziale stellt die Verbesserung institutioneller und regulatorischer Rahmenbedingungen eine wesentliche Handlungsoption dar, um die Unternehmensdynamik zu stärken. Neben Reformen auf Gemeinschaftsebene sind die nationalen Regierungen gefragt, die sich dabei auf eine Reihe von Analysen und Politikvorschlägen nicht zuletzt internationaler Organisationen und der Europäischen Kommission stützen können. Es gilt daher, die Unternehmensdynamik durch grundlegend verbesserte Rahmenbedingungen nachhaltig zu stimulieren.

 

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