Vorwort zum 20. Finanzstabilitätsbericht

Finanzstabilitätsbericht

Unsere Welt verändert sich tiefgreifend. Geopolitische Spannungen, erratische Handelspolitik und strukturelle Herausforderungen wie der demografische Wandel und die Digitalisierung fordern die globale Wirtschaft und die Finanzstabilität erheblich heraus. Unsicherheiten prägen die aktuelle Situation. Neue Schocks treten häufiger auf und erfordern ein widerstandsfähiges und anpassungsfähiges Finanzsystem. Gleichzeitig wird die internationale Zusammenarbeit immer wichtiger. 

Das herausfordernde aktuelle Umfeld und das 20-jährige Jubiläum unseres Finanzstabilitätsberichts laden zu einer Standortbestimmung ein. Warum sind makroprudenzielle Überwachung und Politik so wichtig, und warum gerade jetzt? Um diese Fragen zu beantworten, blicken wir zunächst zurück zu den Anfängen der makroprudenziellen Überwachung und Politik. Spätestens seit der Globalen Finanzkrise (Global Financial Crisis, GFC) ab dem Jahr 2007 ist der Begriff makroprudenzielle Politik nicht mehr aus dem Sprachgebrauch von Zentralbanken und Aufsehern wegzudenken. 1 Wenngleich die GFC in den USA begann, hat sie auch in Deutschland viel Steuergeld gekostet. 2 Deshalb erörtert unser Finanzstabilitätsbericht die Lage in Deutschland im globalen Kontext.

Die GFC hat unser Denken über ein sicheres Finanzsystem fundamental geändert. Vor der Krise überwachten Aufseher, ob Banken für sich genommen gesund sind. Dieser mikroprudenzielle Ansatz ist nach wie vor richtig und wichtig. Allerdings wurde er nach der GFC um die systemweite, makroprudenzielle Perspektive ergänzt. Denn wir haben in der GFC schmerzhaft erfahren, dass die Interaktion innerhalb des Finanzsystems zu Krisen führen kann, auch wenn jeder Akteur und/oder Sektor des Systems für sich genommen stabil erscheint.

Mit den Reformen in Regulierung und Aufsicht haben wir international viel erreicht. Wir haben Qualität und Quantität der Eigenmittelanforderungen an Banken verbessert. Zusätzliche Kapitalpuffer erhöhen inzwischen die Widerstandsfähigkeit gegenüber systemweiten Risiken. Diese Puffer stärken die Fähigkeit von Banken, Verluste abzufedern, ohne weniger Kredite an die Realwirtschaft zu vergeben. Damit tragen sie zu einem stabilen Finanzsystem und einer funktionierenden Wirtschaft bei. Wir haben gesetzliche Grundlagen für kreditnehmerbezogene Instrumente wie Obergrenzen für den Fremdfinanzierungsanteil geschaffen. Wir haben für Nichtbank-Finanzintermediäre (NBFI) Liquiditätsanforderungen und für Versicherer einen risikoorientierten Rahmen (Solvency II) eingeführt.

Globale Finanzkrise, Staatsschuldenkrise – seitdem sind zum Glück schon einige Jahre vergangen. Warum sind makroprudenzielle Überwachung und Politik heute immer noch so wichtig? Auch wenn wir seit über zehn Jahren keine globale Finanzkrise mehr erleben mussten, haben einige Episoden die Stabilität des Finanzsystems getestet: Brexit, die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zum Glück hat das Finanzsystem diesen Herausforderungen standgehalten. In jüngerer Vergangenheit liegen die Bankenturbulenzen in den USA und der Schweiz im Frühjahr 2023 sowie der 2. April dieses Jahres mit den US-Zollankündigungen. Diese Vorfälle zeigen, dass die Abwesenheit einer Krise nicht bedeutet, dass die Lage im Finanzsystem entspannt ist.

Dass die genannten Ereignisse zu keiner Krise geführt haben, spricht dafür, dass die mikro- und makroprudenzielle Regulierung die richtigen Leitplanken für das Finanzsystem gesetzt hat. Wir haben gesehen, dass das Nebeneinander von mikroprudenziellen Mindestanforderungen und makroprudenziellen Zuschlägen gut funktioniert. Ein zentrales Beispiel sind die Mindestanforderungen an das Eigenkapital und die makroprudenziellen Puffer, die an die systemischen Risiken angepasst werden. Gleichzeitig bedeutet die Abwesenheit von Krisen nicht, dass wir uns zurücklehnen sollten. Die vorausschauende Politik mit dem Blick auf das ganze Finanzsystem halte ich für wichtiger denn je.

Denn neue Entwicklungen können das Finanzsystem verwundbarer machen. Neben den Folgen der Klimakrise oder geopolitischen Spannungen und ihren Auswirkungen auf das Finanzsystem, denke ich hier insbesondere an technologische Entwicklungen wie die Vernetzung von Stablecoins mit dem traditionellen Finanzsystem, den Einfluss von künstlicher Intelligenz oder auch von Quantum Computing. Das Finanzsystem muss widerstandsfähig auch gegenüber solchen Entwicklungen sein. Dafür ist auch in Zukunft ein intensiver internationaler Dialog nötig.

Genau wie sich Finanzmarktteilnehmer an neue Entwicklungen anpassen, müssen sich auch mikro- und makroprudenzielle Politik weiterentwickeln. Wir haben durch die Reformen das Finanzsystem über die Jahre deutlich resilienter gemacht, die Regulierung aber auch komplexer. Die aktuelle Situation lädt uns ein, zu überdenken, wo wir den Regulierungsrahmen anpassen können. Wir sollten ein resilientes Finanzsystem mit einer weniger komplexen Regulierung und effektiver Handlungsfähigkeit vereinen. So können wir einen zeitgemäßen Rahmen setzen, der sowohl den Interessen von Marktteilnehmern als auch von Regulierern gerecht wird.

Doch zunächst zur Gegenwart: Wie wir die aktuellen Herausforderungen für das deutsche Finanzsystem einschätzen und wo wir Handlungsbedarf sehen, analysiert der 20. Finanzstabilitätsbericht. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine interessante Lektüre.

Michael Theurer
Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, zuständig für Banken und Finanzaufsicht sowie Finanzstabilität

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