2 Überraschend starkes Wachstum im Euroraum
Im Euroraum nahm die Wirtschaftsleistung im ersten Vierteljahr 2024 überraschend stark zu. Der Schnellschätzung von Eurostat zufolge stieg das BIP im Vergleich zum Vorquartal preis- und saisonbereinigt um 0,3 %, nach einem leichten Rückgang im Schlussquartal 2023. Das spürbare Wachstum dürfte vor allem auf die konjunkturelle Aufhellung in verschiedenen Dienstleistungsbereichen und auf den durch günstige Witterungsverhältnisse bedingten Schub in der Bauwirtschaft zurückzuführen sein. Im Verarbeitenden Gewerbe hielt die Flaute dagegen an. Im laufenden Quartal dürfte die konjunkturelle Grundtendenz moderat aufwärtsgerichtet bleiben. Die Belastungen durch die starken Preisanstiege der letzten Jahre klingen weiter ab, und von der Weltwirtschaft gehen stützende Impulse aus. Verschiedene Faktoren bremsen jedoch weiterhin, insbesondere die hohe geopolitische Unsicherheit sowie die straffere geldpolitische Ausrichtung.
Die allmähliche Erholung des privaten Verbrauchs setzte sich im Winter fort. Die realen verfügbaren Einkommen dürften angesichts der guten Arbeitsmarktlage, der deutlich gestiegenen Löhne und der abgeschwächten Teuerung merklich zugelegt haben. Dies schlug sich wohl verstärkt in der Nachfrage nach Dienstleistungen nieder. Die Umsätze im Gastgewerbe zogen jedenfalls preisbereinigt im Januar und Februar spürbar an. Auch der Warenkonsum erholte sich. Die Einzelhandelsumsätze stiegen nach mehreren Quartalen mit sehr schwacher Dynamik preisbereinigt sichtbar an. Die Zahl der Neuzulassungen von Kraftfahrzeugen ging allerdings noch einmal zurück. Gleichzeitig blieb das Verbrauchervertrauen trotz einer gewissen Aufhellung im Quartalsverlauf unter seinem langfristigen Durchschnitt. Insgesamt zeigte sich die Konsumkonjunktur weiterhin verhalten.
Die Investitionstätigkeit verstärkte sich vermutlich nur vorübergehend. 3 Der recht kräftige Anstieg der Bauleistung im Januar und Februar lässt eine Zunahme der Bauinvestitionen im ersten Vierteljahr vermuten. Dies dürfte allerdings auf vorübergehende Effekte zurückgehen, darunter insbesondere die außergewöhnlich milde Witterung und staatliche Fördermaßnahmen. Grundsätzlich bleibt die Lage in der Bauwirtschaft schwierig. Laut Umfragen sanken die Bauaufträge weiter, und auch die Zahl der Baugenehmigungen für Wohngebäude ging bis Januar nochmals merklich zurück. Bei den Ausrüstungen gab es wohl ein weiteres Minus. Die Inlandsumsätze der Produzenten von Kapitalgütern sanken im Januar und Februar preisbereinigt deutlich. Die Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien sowie in geistiges Eigentum dürften hingegen im Zuge des Digitalisierungstrends weiter gestiegen sein.
Die Warenausfuhren in Drittländer legten zum Jahresbeginn wohl deutlich zu. Insbesondere wurden vermehrt Vorleistungs- und Konsumgüter exportiert. Nach Ländern dürften sich vor allem die Ausfuhren nach China deutlich erholt haben, die in den vorherigen drei Quartalen stark gesunken waren. Auch die Exporte in die USA und in das Vereinigte Königreich legten wohl spürbar zu. Die Dienstleistungsexporte des Euroraums stiegen den Zahlungsbilanzangaben zufolge bis Februar kräftig, wahrscheinlich maßgeblich getragen vom lebhaften Tourismusgeschäft. Die Wareneinfuhren aus Drittländern dürften dagegen im Winter zurückgegangen sein, wobei die Schwäche über die Güterklassen hinweg breit angelegt war.
Im Verarbeitenden Gewerbe hielt die konjunkturelle Schwäche an. Lediglich die Erzeugung von Vorleistungen erholte sich nach deutlichen Rückgängen in den vorherigen Quartalen etwas. Die Investitions- und Konsumgüterproduktion sanken hingegen. Speziell die Herstellung von Kraftfahrzeugen war merklich geringer als im Vorquartal. Anzeichen einer Bodenbildung gab es in den besonders energieabhängigen Sektoren wie der Chemieindustrie. Verantwortlich für die schwache Industriekonjunktur war den Umfragen der Europäischen Kommission zufolge weiterhin die fehlende Nachfrage. Material- und Arbeitskräftemangel scheinen hingegen inzwischen weitaus weniger relevant. Darüber hinaus ließ der Preisdruck auf der Erzeugerstufe spürbar nach. Erzeuger- und Importpreise sanken im Vorjahresvergleich deutlich, vor allem dank rückläufiger Energiepreise, aber auch wegen sinkender Preise für Vorleistungen. Die Kapazitätsauslastung fiel zwischen Januar und April weiter unter ihren langfristigen Durchschnitt.
Die Dienstleistungskonjunktur hellte sich im ersten Vierteljahr auf. Die Aktivitäten im Hotel- und Gastgewerbe sowie der unternehmensnahen Dienstleister dürften merklich zugelegt haben. Zudem scheint sich die Expansion der Informations- und Kommunikationsbranche verstärkt zu haben. Den Umfragen der Europäischen Kommission zufolge belastete gleichwohl der Arbeitskräftemangel die Dienstleistungsbranche insgesamt.
Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Aktivität war zu Jahresbeginn breit über die Mitgliedsländer gestreut. Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich vor allem in jenen Ländern, in denen zuvor die negativen Auswirkungen der Energiekrise, der starken Teuerung und von Russlands Krieg gegen die Ukraine besonders stark gewesen waren, so auch in Deutschland. 4 In den südlichen Mitgliedsländern setzte sich hingegen die recht schwungvolle Konjunktur fort, gestützt von lebhaftem Tourismus und von Projekten, die aus dem Europäischen Aufbaufonds gefördert werden.
In Frankreich stieg die Wirtschaftsleistung zu Jahresbeginn spürbar an. Das reale BIP legte laut der ersten Schätzung im ersten Quartal um 0,2 % zu, nach einem geringfügigen Plus im Vorquartal. Positive Impulse kamen von der inländischen Nachfrage. Der private Verbrauch stieg vor allem im Bereich Dienstleistungen merklich an. Die Investitionen expandierten nach der schwachen zweiten Jahreshälfte 2023 ebenfalls spürbar. Die Ausfuhren blieben lebhaft. Neben den Güterexporten spielte auch das günstige Tourismusgeschäft eine Rolle. Auch die Importe nahmen nach dem deutlichen Minus zum Jahresende wieder zu. Entstehungsseitig ergab sich die Wachstumsverstärkung alleine aus dem Dienstleistungssektor. Die Industrieproduktion erlitt dagegen einen Rückschlag, und in der Baubranche gab es erneut ein kräftiges Minus.
In Italien legte die gesamtwirtschaftliche Aktivität im ersten Vierteljahr merklich zu. Das reale BIP stieg vorläufigen Angaben zufolge um 0,3 %, nach einem Zuwachs von 0,1 % im Schlussquartal 2023. Impulse kamen vor allem von den Ausfuhren. Hingegen blieb die inländische Nachfrage eher schwach. Der private Verbrauch dürfte weiter gesunken sein, und die Investitionen scheinen trotz der lebhaften Bautätigkeit nur geringfügig zugelegt zu haben. In der Folge dürften sich auch die Einfuhren verringert haben. Entstehungsseitig zog sowohl die Erzeugung der Industrie als auch die Aktivität im Dienstleistungssektor an.
In Spanien setzte sich die lebhafte konjunkturelle Aufwärtsbewegung fort. Das reale BIP stieg laut der ersten Schätzung wie im Vorquartal um 0,7 %. Getragen wurde das Wachstum von einer erneuten Steigerung des privaten Verbrauchs und einem kräftigen Anstieg der Ausfuhren, insbesondere von Diensten. Auch die Investitionstätigkeit legte spürbar zu, vor allem bei den Ausrüstungen und den Nichtwohnbauten. Entstehungsseitig stieg die Aktivität im Verarbeitenden Gewerbe, in der Bauwirtschaft und im Handel deutlich an.
Auch in mehreren kleineren Mitgliedsländern fielen die Zuwächse der Wirtschaftsleistung recht kräftig aus. Insbesondere in Portugal, der Slowakei und Zypern stieg das reale BIP erneut deutlich an. In Belgien und Österreich wuchs die Wirtschaftsleistung moderat. In den Niederlanden und in Slowenien stagnierte die Aktivität. In Finnland, Litauen und Lettland, die von Auswirkungen des Ukrainekrieges besonders betroffen waren, verbesserte sich die wirtschaftliche Lage. In Estland hingegen hielt die Rezession an.
Die Arbeitsmarktlage im Euroraum blieb auch im ersten Quartal 2024 günstig. Die Arbeitslosigkeit verharrte auf dem Tiefstand von 6,5 %, und die Zahl der Beschäftigten stieg erneut recht kräftig an. Allerdings schwächte sich die Anspannung am Arbeitsmarkt zuletzt etwas ab. Das Horten von Arbeitskräften ließ einem Indikator der Europäischen Kommission zufolge ein Stück weit nach, 5 und die Beschäftigungserwartungen für die nächsten drei Monate gingen zurück. Die Quote der offenen Stellen sank im Einklang mit der verhaltenen Konjunktur. Das Lohnwachstum dürfte auch im ersten Vierteljahr mit 4 % bis 5 % gegenüber dem Vorjahr vergleichsweise hoch ausgefallen sein.
Der Preisauftrieb auf der Verbraucherstufe verstärkte sich im ersten Quartal 2024 im Vergleich zum Herbst wieder. Der HVPI erhöhte sich gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt um 0,7 %. Wesentlich hierfür war die höhere Dynamik bei den Dienstleistungspreisen, die im besonderen Maß von den Löhnen bestimmt werden. Aber auch die Preise für Industriegüter (inklusive Energie) und für verarbeitete Nahrungsmittel stiegen weiter an. Lediglich die Preise für unverarbeitete Nahrungsmittel sanken etwas.
Die Gesamtteuerungsrate, gemessen als Veränderung des HVPI zum Vorjahr, nahm dennoch ab. Vor allem bei den Industriegütern ohne Energie verringerte sich die Rate merklich von 2,9 % im Schlussquartal 2023 auf 1,6 % im ersten Quartal 2024. Die Teuerungsraten der Dienstleistungen und der Nahrungsmittel blieben dagegen mit 4 % deutlich erhöht. Die Energiepreise lagen zwar noch immer unterhalb ihres Vorjahresniveaus. Der Abstand verringerte sich aber merklich. Dadurch sank die HVPI-Rate insgesamt nur wenig weiter auf 2,6 %, nach 2,7 % im Vorquartal. Die Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittel schwächte sich deutlicher von 3,7 % auf 3,1 % ab.
Auch im April blieb die Inflationsrate spürbar erhöht. Im April stiegen die Preise für nahezu alle Komponenten saisonbereinigt kräftiger an als im März. Lediglich die Preise für Industriegüter ohne Energie sanken. Damit schwächte sich der Disinflationsprozess etwas ab. Ausschlaggebend dafür war, dass die Energiepreise wieder stiegen, und sich das hohe Lohnwachstum fortsetzte. Die HVPI-Vorjahresrate verharrte bei 2,4 %. Die Kernrate verringerte sich zwar etwas weiter von 2,9 % auf 2,7 %, der Anstieg der Dienstleistungspreise blieb dennoch merklich erhöht.
Das zugrunde liegende Tempo der konjunkturellen Erholung im Euroraum bleibt wohl zunächst verhalten. Ein Teil der Wachstumsüberraschung des ersten Vierteljahres dürfte einer temporären Verbesserung in der Bauwirtschaft zuzuschreiben sein. Hier könnte es im zweiten Vierteljahr zu einer Gegenbewegung kommen. Auch zeigen die Stimmungsindikatoren bisher keine wesentliche Verstärkung der konjunkturellen Grundtendenz an, und die Konjunktur scheint gespalten zu bleiben: Einer zumindest in Teilen recht lebhaften Dienstleistungskonjunktur steht eine weiterhin schwache Industriekonjunktur gegenüber. Die Produktionserwartungen der Industrie gaben im April wieder nach, und die Auftragslage wurde schlechter bewertet. Auch die Aussichten der Bauwirtschaft bleiben angesichts der strikten Finanzierungsbedingungen äußerst verhalten. Besser scheinen die Perspektiven für den privaten Verbrauch. Das Konsumentenvertrauen stieg bis April, wobei die Haushalte vor allem ihre finanzielle Lage merklich besser bewerteten. Insbesondere das Tourismusgeschäft könnte davon profitieren. Eine spürbare gesamtwirtschaftliche Wachstumsverstärkung im Euroraum würde wohl voraussetzen, dass die hohe Unsicherheit infolge der geopolitischen Konflikte eingedämmt wird.